Zufall und Glück

Wieso entging Heidelberg im Zweiten Weltkrieg der Zerstörung?

Hatten die USA überlegt eine Atombombe über der Stadt abzuwerfen? Prof. Frank Engehausen zufolge steht diese These "auf tönernen Füßen".

09.08.2020 UPDATE: 10.08.2020 06:00 Uhr 3 Minuten
Die unzerstörte Altstadt im April 1945. Nur die Alte Brücke ist kaputt. Die Wehrmacht hatte sie auf ihrem Rückzug gesprengt. Gab es Pläne der USA, eine Atombombe auf Heidelberg zu werfen? „Die These steht auf tönernen Füßen“, meint Prof. Frank Engehausen. Foto: Stadtarchiv

Von Anica Edinger

Heidelberg. Frühjahr 1945. In vielen Teilen des Deutschen Reiches tobt der Luftkrieg der Anti-Hitler-Koalition. Heidelberg blieb von der Zerstörung fast gänzlich verschont. Aber warum? Verschiedene Thesen kursieren zu dieser Frage immer wieder in der Stadt und im Internet. Die neueste: Die Amerikaner hatten Heidelberg als "unverfälschtes Testgebiet" für den Abwurf der ersten Atombombe vorgesehen. "Hiroshimas Unglück und Heidelbergs Glück" titelte dazu jetzt das Online-Magazin "Telepolis". Was ist dran an diesen und anderen Hypothesen? Die RNZ sprach mit Prof. Frank Engehausen vom Historischen Seminar der Universität Heidelberg.

Herr Prof. Engehausen, Heidelberg als Testgebiet für den Abwurf der Atombombe: Haben Sie das in der Forschung schon jemals zuvor gehört?

Ich hatte bisher davon noch nichts gehört, habe aber jetzt den Telepolis-Artikel gelesen.

Was ist denn Ihrer Meinung nach dran an den Ausführungen des Magazins?

Die These steht auf tönernen Füßen. Die Argumentation stützt sich, wenn ich das recht verstehe, auf die heutigen Aussagen von ein oder zwei Personen, die vor 35 Jahren mit einer dritten Person gesprochen haben, die über Dinge berichtete, die wiederum 40 Jahre zurücklagen. In einer solchen Konstellation, quasi auf der Grundlage einer jahrzehntealten Flüsterpost, lässt sich kaum Beweiskraft beanspruchen. Hinzu kommt die Frage, ob die Amerikaner überhaupt Festlegungen für Atombombentestgebiete in Deutschland getroffen hatten und ob der "legendäre Atomspion" davon gewusst haben konnte. Dies kann ich nicht beurteilen; aber es scheint mir doch so viele offene Fragen zu geben, dass ich der These ihren Nachrichtenwert absprechen würde.

Immer wieder gibt es neue Gerüchte, weshalb Heidelberg von Luftangriffen verschont blieb. Was ist Ihre Erklärung?

Ich denke, dass es Zufall war. Vermutlich war Heidelberg als Ziel nicht bedeutend genug. Das Primärziel der Luftangriffe war die Zerstörung kriegswichtiger Betriebe und Anlagen, und von denen gab es in Heidelberg vergleichsweise wenige. Für das Sekundärziel, die Demoralisierung der Bevölkerung, wäre Heidelberg aber so gut wie jede andere Stadt vergleichbarer Größe in Betracht gekommen. Mit Blick darauf kommt dann also Glück ins Spiel.

Was sagen Sie zu der Behauptung, die Amerikaner wollten Heidelberg nicht bombardieren, da Heidelberg schon früh als Hauptquartier der US-Streitkräfte in Deutschland ins Auge gefasst wurde?

Auch für diese These fehlen klare Quellenbelege. Sie wird häufig in Zusammenhang gebracht mit Dwight D. Eisenhower, der allerdings erst 1944 in eine Position gelangte, in der er Einfluss darauf nehmen konnte, welche deutschen Städte bombardiert wurden und welche nicht. Wenn Eisenhower denn tatsächlich Heidelberg habe schonen wollen – mit Blick auf den Sitz des späteren Hauptquartiers, aus Sentimentalität gegenüber seinen deutschen Vorfahren oder aus irgendwelchen anderen Gründen –, wäre aber immer noch offen, warum Heidelberg auch vor 1944 nicht bombardiert wurde.

Haben Sie je von den Flugblättern gehört, die einige Heidelberger gesehen haben wollen: "Heidelberg werden wir schonen, denn da wollen wir wohnen"?

Das habe ich gehört und ich halte es für denkbar, dass solche Flugblätter abgeworfen wurden. Definitiv kann ich aber nicht beantworten, ob das tatsächlich so war. Ich hatte so ein Flugblatt jedenfalls noch nie in der Hand. Dabei handelt es sich auch um jene Dinge, die selten in den Archiven landeten. Sollten sie aber abgeworfen worden sein, dann meiner Ansicht nach als etwas heimtückische Form von Propaganda – nach dem Motto: "Wir bombardieren Euch nicht, aber freut Euch nicht zu früh, denn die intakten Wohnungen und Häuser nehmen wir Euch dann weg."

Gibt es eine Art "Historikerstreit" zu diesem Thema in Heidelberg?

"Historikerstreit" ist viel zu hoch gegriffen. Dissens und unterschiedliche Einschätzungen gibt es in unserem Fach immer; bei einem "Historikerstreit" geht es aber um Probleme, die zum Verständnis übergeordneter Zusammenhänge beitragen. Eine solche Bedeutung hat die Frage, warum Heidelberg nicht zerstört wurde, bei Weitem nicht, zumal Heidelberg ja nicht die einzige unzerstörte Stadt war. Wenn wir die Antwort auf diese Frage wüssten, hätte sie, so meine ich, kaum Mehrwert für das Verständnis des Luftkriegs oder gar des Zweiten Weltkriegs.

Wie sind all die wenig haltbaren Thesen zur Verschonung Heidelbergs aus Ihrer Sicht als Historiker zu erklären?

Ich denke, dass gut zu verstehen ist, warum sich die von den Schrecken des Luftkriegs Betroffenen Gedanken darüber gemacht haben, warum einzelne Städte nicht bombardiert wurden: nämlich weil sich diese existenzielle Bedrohung durch vermeintlich rationale Erklärungen etwas leichter bewältigen ließ. Aber es handelte sich eben nur um vermeintlich rationale Erklärungen, wenn zum Beispiel die Dresdner bis zum Februar 1945 meinten, ihre Stadt werde verschont, weil dort eine Tante Churchills gelebt habe. Wenn solche Gerüchte einmal in der Welt sind, lassen sie sich schwerlich wieder einfangen, und offenkundig bieten sie ja sogar einen Nährboden, um neue Gerüchte – hierzu würde ich bis zur Vorlage handfester Beweise auch die These halten, Heidelberg sei ein mögliches Atombombentestgebiet gewesen – entstehen zu lassen.

Frank Engehausen. Foto: Philip Benjamin
(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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