Heidelberg

Wie Corona die Nutzung des öffentlichen Raums verändern könnte

"Die vielen Autos vermisst niemand" - Ein Gespräch mit Stadtgeografin Prof. Ulrike Gerhard

15.07.2020 UPDATE: 16.07.2020 06:00 Uhr 3 Minuten, 50 Sekunden
Die Mittermaierstraße Mitte April: Radfahrerin, Rollstuhlfahrer und Fußgängerin teilen sich einen schmalen Weg, während Autos viel Platz für sich haben. Unter anderem die Grünen schlugen deshalb vor, bei mehrspurigen Straßen eine Fahrbahn für Radfahrer freizugeben. Foto: Rothe

Von Philipp Neumayr

Heidelberg. Essen auf Parkplätzen, weniger Autoverkehr: Für Prof. Ulrike Gerhard, Professorin für Stadtgeografie und Humangeografie Nordamerikas an der Universität Heidelberg, ist die Nutzung des öffentlichen Raums in der Corona-Krise eine große Chance. Warum, erklärt die 50-Jährige im Interview.

Prof. Ulrike Gerhard.Foto: zg

Frau Prof. Gerhard, Gastronomen dürfen auf Parkplätzen bewirten, Einzelhändler Werbetafeln aufstellen und Schausteller Verzehrstände aufbauen, obwohl Heidelberger Herbst und Weihnachtsmarkt noch weit weg sind. Macht sich Heidelberg locker mit seinem öffentlichen Raum?

Dass die Stadt das so unkompliziert möglich gemacht hat, finde ich toll. Das Beispiel Außenbewirtschaftung ist aber zunächst einmal eine wirtschaftliche Maßnahme. Man lässt Außenbestuhlung auf größerer Fläche zu, um mehr Gäste bewirten zu können. Deswegen glaube ich schon, dass noch mehr getan werden kann.

Warum?

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Manch andere Stadt ist da mutiger gewesen. Die jetzige Zeit bietet die Chance, wirklich einmal etwas Neues auszuprobieren und einen Bewusstseinswandel zur Nutzung des öffentlichen Raums und beim Thema Mobilität herbeizuführen – auch unter der Gefahr, dass man scheitert oder am Ende feststellt: Das geht ja doch nicht.

Hat man die Chance, Stadt neu zu denken, verspielt?

Nein, das ist vielleicht etwas zu hochgegriffen. Aber die Stadt hätte noch forscher auftreten und sagen können: Wir probieren das jetzt einfach mal. Heidelberg ist doch ein geeignetes Pflaster, etwas auszuprobieren, weil wir eine überschaubare Stadtgröße haben und keine Riesenmetropole sind. Wir haben eine sehr junge und fahrradbereite Bevölkerung.

Welche Experimente hätte man angehen können?

Zum Beispiel Verkehrsachsen wie die Bundesstraße am Neckar regelmäßig einen Tag lang autofrei machen. So etwas funktioniert in anderen Städten ja auch. Da gehört ein wenig Mut zu, aber in der Regel kommt das gut bei den Menschen an. Oder man hätte in der Mittermaierstraße oder der Berliner Straße eine Autospur an die Radfahrer abgeben und zum Pop-up-Radweg umwandeln können, wie es ja auch die Grünen gefordert haben. Stattdessen wird in teure Ampelanlagen investiert, die den Radverkehr in meinen Augen eher hemmen als fördern.

Könnte man die Stadt nicht generell lebenswerter machen, würde man Radfahrern und Fußgängern mehr Bewegungsraum zugestehen?

Ich glaube, dass man tatsächlich sehr viel radikaler denken muss. Die Stadt sollte Farbe bekennen und sagen: Wir fördern eine andere Mobilität auf Kosten des Autos. Wir haben uns extrem an die Automobilität gewöhnt – daran, dass man möglichst schnell und staufrei mit dem Auto von A nach B kommt. Da sollte man jetzt die Chance nutzen und umdenken, denn Automobilität ist nicht der Normalzustand.

Was ist dann der Normalzustand?

Man darf Verkehrskonzepte nicht vom öffentlichen Raum losgelöst denken, also nicht unterscheiden zwischen: Hier die Fußgänger, da die Radfahrer und dort die Autos oder der ÖPNV. Stattdessen sollte der gesamte Straßenraum als Einheit begriffen werden. Die Weststadt, wo fast der komplette Straßenraum öffentlich genutzt wird, ist ein gutes Beispiel für einen durchmischten Raum. Aber auch andere Stadtteile wie Neuenheim oder in Teilen der Emmertsgrund, wo man die Bürger bei der Gestaltung der Plätze miteinbezogen hat.

Heidelberg war während des Lockdowns wie leer gefegt, viele Menschen blieben zu Hause. Nach wie vor ist Abstandhalten das oberste Gebot. Wie wirkt sich all das auf die Nutzung des öffentlichen Raums aus?

Der öffentliche Raum ist aufgrund der Ansteckungsgefahr erstmal gefühlt unsicherer geworden. Das hat dafür gesorgt, dass man aufs Private zurückgeworfen wurde. Ein öffentlicher Raum, der sehr unter Corona gelitten hat, ist zum Beispiel der Unicampus im Neuenheimer Feld. Dabei hat dieser eigentlich eine hohe Aufenthaltsqualität. Man kann sich über Architektur aus den sechziger Jahren streiten, aber der Campus hat viele Grünflächen, Teiche und Möglichkeiten, spazieren zu gehen. Dort ist nun nichts mehr los. Da merkt man, wie sehr der öffentliche Raum Menschen braucht. Die vielen Autos hingegen vermisst niemand.

Welche Mängel hat Corona noch offengelegt?

Es gab nach dem Lockdown eine große Ungleichheit der Effekte. Diejenigen, die Garten, Terrasse oder Balkon haben, konnten sich ihre Freizeit dort schön gestalten. Aber es gibt eben auch die, die solche Möglichkeiten nicht haben. Das ist definitiv ein Problem.

Wie kann man diese Unterschiede ausgleichen?

Es ist die Aufgabe der Stadt, in die Verbesserung des öffentlichen Raums zu investieren – gerade in Räumen wie im westlichen Bergheim, wo eben nicht jeder seinen eigenen Garten hat und es an öffentlichen Grünflächen fehlt.

Fehlt es der Stadt nicht generell an öffentlichen Freiräumen?

Definitiv. Das hat bauliche Ursachen, aber auch kulturmilieu-spezifische. Wenn man danach sucht, findet man zwar Nischen im öffentlichen Raum, aber die sind kaum präsent. Es fehlt an ungeplanten, spontanen Orten, wo man sich treffen kann – ich denke da gerade auch an Menschen im Alter von 13 bis 18. Die Stadt hat tolle Spielplätze und Cafés, aber Jugendliche brauchen eben auch ihren Raum, wo sie gerne abhängen – und das nicht nur unter einer Neckarbrücke. In der Planung müsste man diese Altersgruppe mehr berücksichtigen. Generell sollte man nicht alles von Anfang bis Ende durchplanen, sondern sich manches erstmal von selbst entwickeln lassen.

Wie kann das gelingen?

Heidelberg tut das mit der Internationalen Bauausstellung, die sich bemüht, die städtische Entwicklung möglichst offen anzugehen. Ein Beispiel ist der "Andere Park" in der Südstadt. Doch oft bleiben solche Projekte dann doch in den Zyklen der Bürokratie hängen. Es wurde viel Zeit investiert, um einen "Anderen Park" entstehen zu lassen. Wie anders der am Ende ist, steht in den Sternen, denn letztlich ist auch dieser Park wieder stark durchgeplant. Es ist auch sehr typisch für Heidelberg, dass am Ende immer viele Interessen mitmischen.

Wird die Stadt nach Corona eine andere sein?

Ich glaube schon, dass Corona bei allem Leid und Sorgen auch für ein Umdenken sorgen kann und sich neue Chancen für die Nutzung von Stadt bieten. Die letzten Monate haben gezeigt, dass die grenzenlose Mobilität, die vielen selbstverständlich erscheint, vielleicht gar nicht das ist, was wir unbedingt brauchen, sondern wie wichtig auch das Lokale und der Nahbereich für die Lebensqualität ist. Corona ist vielleicht eine Chance zu erkennen, dass der öffentliche Raum für alle da ist.

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