Gedenkstunde in Heidelberg

"Dain mame kumt keinemol nit zurück"

Bei der Gedenkveranstaltung für Juden, die bis 1938 in Rohrbach lebten, gab es Kerzenlicht und traurige Wiegenlieder. Der Gastredner war Andreas Blumenthal.

11.11.2023 UPDATE: 11.11.2023 06:00 Uhr 1 Minute, 49 Sekunden
In Rohrbach entzündeten Teilnehmer der Gedenkveranstaltung am Donnerstag Kerzen. Damit gedachten sie der Opfer der Nationalsozialisten und des Nahost-Konflikts. Foto: Alex

Von Manfred Bechtel

Heidelberg. Zu einer Gedenkstunde haben sich am Donnerstagabend mehr als 200 Menschen am alten Rohrbacher Rathaus versammelt. Ein paar Schritte weiter hatte die Synagoge gestanden. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 verwüsteten Angehörige des SA-Studentensturms und Mitglieder des Pioniersturms der SA das jüdische Gotteshaus und steckten es in Brand. Die Feuerwehr durfte erst löschen, als die Flammen auf benachbarte Häuser überzugreifen drohten.

An die Vertreibung der Juden aus Rohrbach und ihre Ermordung im Nationalsozialismus erinnerte Hans-Jürgen Fuchs, der für den Stadtteilverein sprach. Er bereitete seine Rede vor, als die Hamas Israel angriff: "Dann kamen die unglaublich schrecklichen Bilder, und mir haben die Worte gefehlt." Das Entsetzen über die Gewalt dort dürfe nicht dazu führen, dass wir das Andenken an die Vergangenheit vergessen oder "die Augen verschließen vor dem, was bei uns im Land gerade passiert", mahnte er.

Der erste namentlich bekannte Jude in Rohrbach ist Moyses Mayer. Claudia Rink, die im Namen des "Punker" begrüßte, hatte in der Vergangenheit der jüdischen Gemeinde recherchiert. Ende des 17. Jahrhunderts musste Mayer vor französischen Truppen fliehen. Er ist der Urahn von Gastredner Andreas Blumenthal. Zu dessen Vorfahren zählt auch Joel Wolf, 1753 in Rohrbach geboren. Wolf stellte seinerzeit in der Rathausstraße 54 einen Raum für einen Betsaal zur Verfügung. Dort wurden auch die jüdischen Kinder unterrichtet. Erst 1845, nach zähen Verhandlungen mit der Obrigkeit, durfte in der Ortsmitte eine Synagoge gebaut werden. Fast 100 Jahre lang war sie das Zentrum des jüdischen Lebens.

Mit einer Begebenheit aus der Gegenwart begann Andreas Blumenthal seine Untersuchungen über "Judenfeindlichkeit im Wandel der Zeit": Als Blumenthal eines Abends im Gespräch mit einer angehenden Abiturientin auf die judenfeindlichen Schriften Martin Luthers zu sprechen kam, hatte die Gymnasiastin "davon noch nie etwas gehört, und sie konnte es zunächst auch gar nicht glauben", berichtete er.

Auch interessant
Reichspogromnacht 1938: Gedenkveranstaltung in Berliner Synagoge
Demonstration: Mehr als 300 Schriesheimer setzten ein Zeichen
Sicht auf den Gaza-Krieg: "Israel gilt als Produkt des Kolonialismus"
Eberbach: Gedenken an die Opfer von damals und heute
Eppingen: "Erinnerungskultur alleine reicht nicht"

Dann sprang Blumenthal in der Geschichte 250 Jahre nach vorne und landete in der Deutschen Romantik. Auch wenn es den Begriff des Antisemitismus damals noch nicht gegeben habe, hätte die Romantik ihm doch den Weg geebnet. Sein Augenmerk galt vor allem Achim von Arnim, einem der Hauptvertreter der Heidelberger Romantik, insbesondere seiner 1811 gehaltenen Tischrede "Ueber die Kennzeichen des Judenthums". Doch auch die jüngsten Ereignisse sparte Blumenthal nicht aus. Israel als ein Produkt eines weißen Siedler-Kolonialismus zu sehen, sei schon immer eine einseitige und ahistorische Sicht auf den Nahost-Konflikt gewesen, sagte er.

80 Namen von Juden, die von den Nazis aus dem Rohrbacher Leben gerissen wurden, sollen nicht vergessen werden. Zwei Konfirmandinnen verlasen sie. Die schlichte Feier schloss ein paar Schritte weiter am Platz der ehemaligen Synagoge. Dort wurden am steinernen Davidstern Kerzen entzündet. Pfarrerin Sibylle Baur-Kolster aus der Melanchthongemeinde sprach ein Friedensgebet. Ein musikalisches Trio begleitete mit traditionellen Liedern das Gedenken, eines davon war ein trauriges jiddisches Wiegenlied. "Schlaf mein teures Kind", heißt es in dem Text, "deine Mutter kommt nicht mehr zurück". Oder, auf Jiddisch: "Dain mame kumt keinemol nit zurück."

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.