"Israel gilt als Produkt des Kolonialismus"
Die Politologe Plagemann sprach mit der RNZ über die Sicht des Globalen Südens auf das Land, die Ursachen der Kritik und die große Ausnahme Indien.

Von Michael Abschlag
Heidelberg. Johannes Plagemann ist Politologe am GIGA-Institut für Asienstudien in Hamburg und Buchautor ("Wir sind nicht alle: Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens" mit Henrik Maihack).
Herr Plagemann, im Moment wirkt Israel auf internationaler Ebene ziemlich isoliert. Stimmt der Eindruck?
Das stimmt schon, ist aber nicht besonders neu, gerade im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Israels Position ist da seit Jahrzehnten nicht mehrheitsfähig auf internationaler Ebene. Eine große Übereinstimmung der meisten Staaten des Globalen Südens besteht darin, dass man Israels Verhalten gegenüber den Palästinensern kritisiert. Das zeigt sich etwa auch im Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen.
Woher kommt das?
Das hat viel mit den jeweils eigenen Geschichten dieser Staaten zu tun. In weiten Teilen der Welt nimmt man den Nahostkonflikt und überhaupt die Existenz Israels weniger als Ergebnis des Holocaust wahr, sondern als Produkt des Kolonialismus. Das sind natürlich zwei völlig unterschiedliche Wahrnehmungen, die zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen. Die ehemaligen Kolonien sehen da also eine Parallele zu ihrer eigenen Geschichte.
Man sieht Israel als koloniales Projekt des Westens?
Oder zumindest als Resultat des Kolonialismus. Palästina war ja faktisch eine britische Kolonie, daraus formte sich dann der Staat Israel, während die Palästinafrage ungelöst blieb. Und all das geschah zu einer Zeit, in der weltweit die Dekolonialisierung stattfand. Die postkolonialen Staaten haben auch immer wieder darauf hingewiesen, dass das ein ungelöster Teil der Dekolonialisierung sei.
Man könnte auch argumentieren, dass die Juden in Europa jahrhundertelang eine Art Kolonialerfahrung gemacht haben und Israel die Konsequenz daraus ist. So wird das aber nicht gesehen, oder?
Das wird tatsächlich weniger wahrgenommen. Es ist ein Problem, dass ferner ist, denn in den meisten dieser Staaten gibt es weniger Juden, und der Zweite Weltkrieg in Europa hat eine andere Bedeutung. Die Menschen dort haben ihre eigenen Kriege geführt, vor allem ihre Befreiungskriege gegen die Europäer. Und sie stellen fest, dass den Palästinensern auch nach der Dekolonialisierung ein eigener Staat nicht gewährt wird.
Ist das der einzige Grund, oder spielt auch Antisemitismus eine Rolle?
Das spielt mit Sicherheit in Teilen auch eine Rolle. Bei dem postkolonialen Blick auf die Welt geht es aber ja um sehr viel mehr als um den Nahostkonflikt, und in den meisten Regionen der Welt um ganz andere Probleme. Diese Perspektive sollte man jetzt nicht komplett verwerfen.
Zumal der Nahostkonflikt für die meisten wahrscheinlich ein Randthema ist.
Genau. Er wird natürlich auch politisch genutzt, um Unterstützung zu mobilisieren, so wie etwa in Bolivien, das jetzt seine diplomatischen Beziehungen mit Israel abbrechen will. Der Konflikt berührt die Menschen also schon. Anders als beim Ukrainekrieg findet der Protest tatsächlich auf den Straßen statt.
Gibt es denn auch Ausnahmen? Länder, die auf der Seite Israels stehen?
Die gibt es schon. Ein interessanter Fall ist Indien. Indien hat in den letzten Jahren seine Zusammenarbeit mit Israel deutlich ausgebaut, etwa bei der Landwirtschaft oder auch in der Sicherheitspolitik. Und es gibt eine Übereinstimmung zwischen der hindu-nationalistischen Regierung unter Narenda Modi und der israelischen Regierung: den Kampf gegen den militanten Islam, aber auch das Verhältnis zu Muslimen insgesamt. Da gibt es also auch eine ideologische Nähe. Das wird nicht offen ausgesprochen, weil Indien eine lange Tradition der Unterstützung der Palästinenser hat. Aber die Beziehungen zu Israel sind in den letzten Jahren schon deutlich enger geworden.
Gibt es noch andere Länder?
Wenn man sich das Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen anschaut, dann stellt man fest, dass schon einige Staaten etwa die jüngste jordanische Resolution abgelehnt haben. Kenia beispielsweise versucht seit längerem, einen Mittelweg zwischen Solidarität mit den Palästinensern und Zusammenarbeit mit Israel einzuschlagen. Auch Ghana, Kongo und Ruanda haben den Angriff der Hamas sehr deutlich verurteilt. Israel hat auch zu einigen anderen Staaten die Beziehungen verbessert.
Auch zu vielen arabischen Ländern.
Das auch, und das steht jetzt natürlich alles wieder infrage. Es gab ja auch beim letzten G20-Treffen die Idee eines Entwicklungskorridors von Indien durch Saudi-Arabien nach Europa, der notwendigerweise auch Israel mit einschließen müsste. Das ist also ein Versuch, die Fronten zu durchbrechen.
Vermutlich gibt es in vielen Staaten auch interne Debatten.
Ein interessantes Beispiel, das heraussticht, ist Südafrika. Dort gibt es eine lange Geschichte der Solidarität mit den Palästinensern aufseiten der Regierungspartei ANC. Israel hatte ja lange enge Beziehungen zum Apartheid-Regime, und das ist in Südafrika und darüber hinaus noch sehr präsent. Gleichzeitig gibt es auch eine parteipolitische Ausdifferenzierung zwischen eher pro-israelischen und pro-palästinensischen Parteien. Es gibt in einigen Staaten also auch eine Übertragung dieses Konflikts in die Innenpolitik.
Müsste nicht auch die UN reformiert werden? In Israel ist das Vertrauen in sie gesunken, und viele Weltregionen sind im Sicherheitsrat nicht repräsentiert.
Das ist schwierig. Die UN ist letztlich so stark, wie ihre Mitgliedsländer bereit sind, einen Konsens zu finden. Gerade beim Nahostkonflikt gibt es seit Jahren eine Blockade, weil sich eine Mehrheit der Staaten gegen Israel ausspricht und die USA und Europa die Resolutionen blockieren. Und die UN selbst als Organisation ist wenig handlungsfähig. Auch die scharfe Kritik an Antonio Gutteres hat im Globalen Süden viele vor den Kopf gestoßen.
Weil man dem Westen vorwirft, mit zweierlei Maß zu messen?
Ja. Die USA argumentieren ja: So wie Russland in der Ukraine bekämpft werden muss, so muss die Hamas in Gaza bekämpft werden. Für die Menschen des Globalen Südens ist die Analogie eine andere: So wie Russland völkerrechtswidrig einen Nachbarstaat überfallen hat, so greift jetzt Israel in Gaza ein. Das ist also eine völlig andere Wahrnehmung. Dieser Vorwurf der Doppelstandards taucht immer wieder auf, und er wird uns auch erhalten bleiben. Er ist in vielen Fällen auch berechtigt.
Färbt diese Sichtweise auch auf postkoloniale Bewegungen hier im Westen ab? Etwa an amerikanischen Universitäten oder bei Fridays for Future.
Das hängt damit zusammen. Wenn man versucht, die Sichtweise des Globalen Südens zu übernehmen, dann reibt man sich an den Wahrnehmungen hier. Die Präsenz des Holocaust als identitätsstiftendes Moment für die deutsche Außenpolitik zum Beispiel ist im Rest der Welt schwer nachzuvollziehen. Die Länder im Globalen Süden haben – ohne das man das vergleichen könnte – ihre eigenen Geschichten, ihre eigenen Katastrophen und Völkermorde. Unsere Sichtweise lässt sich nicht so leicht anderen verordnen.
Hat Israel überhaupt die Chance, aus dieser Isolation herauszukommen?
Was in der Debatte wichtig ist, ist eine Trennung zwischen der Grausamkeit der Hamas und den israelischen Reaktionen darauf. Man muss das eine verurteilen und das andere kritisieren können. Was sich auch gezeigt hat: Die Kritik an Israel ist lauter geworden, als klar wurde, dass es auf eine Bodenoffensive hinausläuft und immer mehr Zivilisten in Gaza gestorben sind. Das lässt sich nicht davon trennen, und auch der Kurs der rechtsreligiösen Regierung unter Benjamin Netanjahu im Laufe dieses Jahres lässt sich nicht davon trennen. Der erschwert den Ausgleich jetzt.