"Er sagt, was er denkt, und er tut, was er sagt"
Tsering Ngodup floh als Kind aus Tibet - Ein Gespräch mit ihm und seiner Frau über den Dalai Lama sowie den Konflikt in seiner Heimat

Der Tibeter Tsering Ngodup und seine Frau Doris Ngodup-Widdra wollten nicht mit einem Foto in der Zeitung erscheinen. Dieses Bild zeigt den Dalai Lama, der am 20. September in die Heidelberger Stadthalle kommt, im indischen Exil. Foto: dpa
Von Sebastian Riemer
Heidelberg. Als Tsering Ngodup zehn Jahre alt war, musste der Tibeter seine Heimat verlassen. Das ist jetzt 58 Jahre her - und er ist nie nach Tibet zurückgekehrt, nicht einmal zu Besuch. Mit seiner Frau Doris Ngodup-Widdra, die er Anfang der 70er Jahre in seinem ersten Exil in Indien kennenlernte, lebt er seit Jahrzehnten in Heidelberg. Der 68-Jährige arbeitete als Krankenpfleger im Uniklinikum, bevor er 2015 in Rente ging. Er ist Vorsitzender der Regionalgruppe Heidelberg der Tibet-Initiative. Auch seine Frau engagiert sich in dem Verein. Im Vorfeld des Besuchs des Dalai Lama - das geistliche Oberhaupt der Tibeter kommt am 20. September auf Einladung des Deutsch-Amerikanischen Instituts (DAI) in die Stadthalle - spricht das Ehepaar über den Dalai Lama, die Situation in Tibet und die Chancen auf eine Rückkehr.
Herr Ngodup, was bedeutet Ihnen ganz persönlich der Dalai Lama?
Ngodup: Für mich ist er die einzige Person, der ich ohne Weiteres vertrauen kann. Er sagt, was er denkt, und er tut, was er sagt. Und er symbolisiert eben die buddhistische Lehre der Liebe und des Mitgefühls für alle anderen Lebewesen und die Gleichheit aller Menschen.
Sind Sie ihm schon persönlich begegnet?
Ngodup: Wir haben viele seiner Auftritte in Deutschland miterlebt. Aber ich habe ihn auch zwei Mal persönlich getroffen. Einmal 1973 in Dharamsala, seinem Exil-Sitz. Meine Mutter war gestorben, und ich bat ihn, sie in sein Gebet einzuschließen. Viele Jahre später bin ich mal am Frankfurter Flughafen ein Stück neben ihm gelaufen, und wir haben ein paar Worte gewechselt.
Sind das für Sie einschneidende Ereignisse in Ihrem Leben?
Ngodup: Also für mich waren das jetzt nicht so erleuchtende Ereignisse, wie viele Menschen aus dem Westen das beschreiben. Aber man merkt schon, dass eine andere Atmosphäre im Raum herrscht, wenn der Dalai Lama ihn betritt. Alles wird dann ganz ruhig. Er strahlt einfach eine große Friedlichkeit aus.
Warum mussten Sie 1960 als zehnjähriger Junge Ihre Heimat verlassen?
Ngodup: Als die Chinesen in unser Dorf im Westen Tibets einmarschierten, steckten sie viele völlig grundlos ins Gefängnis - darunter auch meinen Onkel. Zudem hatten wir nach den Aufständen in Lhasa im Jahr 1959 Berichte über Gräueltaten gehört. Es stand zu befürchten, dass sie uns die Lebensgrundlage nehmen. Denn in anderen Dörfern hatten sie das Land konfisziert. Die Einheimischen mussten weiter dort arbeiten, die Chinesen nahmen ihnen die Produkte weg und ließen ihnen nur einen winzigen Teil zum Überleben.
Wohin gingen Sie mit Ihrer Familie?
Ngodup: Zunächst nach Nepal, dann nach Indien. Meine Eltern arbeiteten im Straßenbau, ich kam ins Internat. Nach der Schule arbeitete ich dann in der zentralen Bibliothek der Exil-Tibeter in Dharamsala.
Ngodup-Widdra: Und da haben wir uns dann kennengelernt.
Was hat Sie damals nach Indien verschlagen, Frau Ngodup-Widdra?
Ngodup-Widdra: Ich hatte Tibetologie studiert und wollte promovieren. Eigentlich wollte ich nur für zwei Jahre nach Dharamsala, um richtig das gesprochene Tibetisch zu lernen. Daraus sind dann fünf Jahre geworden. Und 1977 sind wir dann gemeinsam nach Deutschland gegangen.
Warum haben Sie Tibet nie besucht?
Ngodup: Es ist einfach zu gefährlich. Wir können nicht ganz sicher sein, was die Chinesen mit uns anstellen würden. Viele Tibeter, die zurückgingen, wurden verhaftet oder sind verschwunden.
Ngodup-Widdra: In den 1980er Jahren gab es einmal ein Zeitfenster, da wäre es möglich gewesen, weil es eine gewisse politische Entspannung gab. Damals fehlte uns aber das Geld für die Reise. Und spätestens seit 1989 können wir das Risiko nicht mehr eingehen - weil wir uns seit damals für Tibet engagieren.
Glauben Sie, dass Sie Ihr Heimatland jemals wieder sehen werden?
Ngodup: Ich hoffe, dass der Weg des Dalai Lama eines Tages Erfolg hat. Er hat ja schon 1974 das Ziel der Unabhängigkeit für Tibet aufgegeben. Es geht ihm und den Tibetern um eine echte Autonomie innerhalb des chinesischen Staates. Und ich wünsche mir, dass ich diese noch erleben darf.
Ngodup-Widdra: Ich bin da leider weniger optimistisch.
Warum?
Ngodup-Widdra: Weil sich die Lage von Tag zu Tag verschlimmert. Erst im Oktober 2017 hat der chinesische Nationale Volkskongress noch restriktivere Maßnahmen beschlossen.
Was für Restriktionen müssen die Tibeter erleiden?
Ngodup: Sie werden flächendeckend überwacht und permanent schikaniert. Friedliche Proteste werden sofort mit Gewalt beendet. China beutet Tibets Bodenschätze aus, ohne dass die Tibeter etwas davon zurückbekommen. Und wir können unsere Kultur in Tibet nicht leben, die chinesische Regierung sieht den Buddhismus als Bedrohung. Ein jüngeres Beispiel ist die Zerschlagung des größten buddhistischen Klosters Larung Gar. Hunderte Gebäude wurden zerstört. Von einst 20.000 Nonnen und Mönchen dürfen nun nur noch 5000 dort leben. Die Klosterverwaltung ist jetzt ganz in chinesischen Händen. Seit 2009 bis jetzt haben sich 152 Tibeter aus Protest selbst verbrannt.
Der Dalai Lama ist 83 Jahre alt. Wie würde es sich auf den Konflikt auswirken, wenn er sterben sollte?
Ngodup: Der Konflikt könnte eskalieren. Der Dalai Lama ruft permanent zu friedlichem Verhalten auf - auch im Angesicht der größten Ungerechtigkeiten. Ich weiß nicht, ob die Tibeter weiter so geduldig und friedlich bleiben würden, wenn diese Stimme verstummen sollte.
Der Dalai Lama selbst will ja gar keinen Nachfolger mehr haben.
Ngodup: Er sagt aber auch, dass er bleibt, solange es die Welt und die Lebewesen gibt. Er wird also weiter unter uns sein - wir wissen nur nicht in welcher Form.
Jedenfalls nicht als Dalai Lama.
Ngodup: Nein, den werden wohl die Chinesen einsetzen, aber das können die Tibeter dann natürlich nicht ernst nehmen.
Es gibt immer wieder Kritik am Dalai Lama - auch außerhalb Chinas. Er sei in Wahrheit ein konservativer Hardliner, fast ein Diktator. Was sagen Sie dazu?
Ngodup-Widdra: Vor einigen Jahren tauchten bei Auftritten des Dalai Lama im Westen diese Shugden-Anhänger als Gegendemonstranten auf. Doch vor zwei, drei Jahren gab ein tibetischer Mönch zu, für diese Proteste von China bezahlt worden zu sein. Daraufhin fiel die Shugden-Bewegung in sich zusammen.
Ngodup: Das war eine Inszenierung der Chinesen.
Wollen Sie damit sagen, dass es in Tibet keinerlei Kritiker des Dalai Lama gibt?
Ngodup: Vielleicht 0,1 Prozent der Tibeter haben ein Problem mit dem Dalai Lama. Es gibt ein paar versprengte Sekten, die beispielsweise den Geisterglauben pflegen. Der Dalai Lama sagt, dass das kein Buddhismus ist - aber er betont immer wieder, dass jeder frei sei, ihm in dieser Auffassung zu folgen oder nicht.