Fachgespräche über Begräbniskultur: Tim und Kunstpädagoge Gerold Eppler Fotos: Geraldine Friedrich
Von Geraldine Friedrich
Zahnschmerzen glaubte man im Mittelalter mit einem Sargnagel heilen zu können", weiß Gerold Eppler, Kunstpädagoge im Museum für Sepulkralkultur in Kassel, und fügt hinzu: "Der Leidende musste mit dem Nagel in dem kaputten Zahn herum stochern." Eine andere Behandlungsvariante bestand darin, mit den eigenen Zähnen die verbliebenen Zähne eines Totenschädels herauszubrechen. Und wer eine brennende Kerze, deren Wachs aus Menschenfett stammt, in einen Totenschädel stellte, konnte die Lottozahlen vorhersehen.
Tim, sieben Jahre alt, schaut den 57-Jährigen ungläubig an. Stimmt das? Eppler nickt und grinst. "Da gibt’s unglaubliche Geschichten, die stehen alle im Handbuch des Aberglaubens." Tatsächlich weist der bemalte und mit dem Namen des Toten versehene Schädel keinen einzigen Zahn mehr auf.
Sepulkralkultur - der Zungenbrecher bezeichnet alles, was sich mit Tod und Begräbniskultur beschäftigt. Das in Deutschland einzigartige Museum dieser Art hat sich zudem die Vermittlung der Toten- und Begräbniskultur an Kinder und Jugendliche zur Aufgabe gemacht. Kinder können dort sogar ihre Geburtstage feiern. Särge, Schädel und Kinder - wie passt das zusammen? Eppler: "Kinder interessieren sich brennend für den Tod, und aus pädagogischer Sicht spricht überhaupt nichts dagegen. Wir zeigen ja keine Horrorfilme, sondern klären altersgerecht auf."
Zwischendurch streichelt Tim ein weinrotes Gebilde, das an einen Rennschlitten erinnert: Es ist ein Sarg des Designers Andreas Spiegel. 75 Minuten später ist die Führung zu Ende, es entstand keine Sekunde Langeweile. Epplers Erfolgsrezept: Wir Eltern waren nur die Nebendarsteller, im Mittelpunkt stand unser Sohn, mit dem sich der Pädagoge die ganze Zeit unterhielt und diskutierte.
Ganz anders verläuft der Besuch in der Grimmwelt. Das erst 2015 eröffnete Museum, welches sich den Märchensammlungen der Gebrüder Grimm widmet, liegt gleich neben dem Museum für Sepulkralkultur und ist auf dem neusten Stand der interaktiven Ausstellungskunst. Hier braucht es keine Führung - Tim flitzt los und verschwindet hinter hohen, grünen Säulen, die mit einer Art grobem Plastikrasen ummantelt sind. Sie erinnern an die Walzen einer Autowaschanlage und sind eng gesetzt - so eng, dass es pikst. "Das ist die Dornenhecke aus Dornröschen, die muss schon etwas piesacken, sonst ist es ja keine", klärt der Museumsaufseher auf und ergänzt: "Überall, wo ihr blaue Punkte seht, passiert was, wenn ihr euch drauf setzt+ oder drauf stellt."
Das Denkmal "Ich" am Brüder-Grimm-Platz.Gesagt getan. Als da wäre der Stuhl mit blauem Punkt im Haus der Großmutter aus Rotkäppchen. Ich setze mich rauf, Tim guckt von außen durchs Fenster rein und freut sich diebisch, als mich der Wolf aus dem Bett anspringt - rein virtuell, versteht sich. Als Liebling der Ausstellung entpuppt sich das "Ärsch᠆lein", eine schwarze Riesentröte, in der Tim wild Schimpfwörter hineinruft. "Du elender Bratzenratzer" ruft er begeistert hinein. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: "Sackesel" tönt es aus dem Rohr zurück.
Nach so viel Sarg- und Sprachkultur braucht es eine geistige Auszeit. Die findet der Nachwuchs im Kletterzentrum Nordhessen, nicht weit vom Zentrum. Bouldern, also das ungesicherte Klettern in Sprunghöhe, ist angesagt. Anderthalb Stunden geht es auf diversen Parcours hoch und runter, auch Papa Michael versucht sich. So lässt sich das Kind auch bei schlechtem Wetter müde spielen.
Bei schönem Wetter besteigen wir den Bergpark Wilhelmshöhe. Besteigen deshalb, weil der Eingang des Parks auf etwa 280 Höhenmeter liegt, und die Herkulesstatue oben auf 515 thront. Gerade ältere Menschen unterschätzen die Steigung gerne, sodass diese regelrecht gerettet werden müssen. Da passt es doch, dass Kassel nach 19 Jahren Pause seit 2017 wieder eine eigene Bergwacht hat.
Eine gute Option für schlechtes Wetter: Bouldern im Kletterzentrum Nordhessen. Die brauchen Tim und Papa Michael allerdings nicht. In 15 Minuten schaffen sie den Aufstieg von der Endhaltestation der Straßenbahnlinie 1 bis zur Löwenburg locker. Das Bauwerk aus Tuffstein ist ein Geschenk des Kurfürsten Wilhelm I. an sich selbst: Es sieht aus wie eine überdimensionierte Playmobil-Ritterburg. Ganz Kind im Mann staffierte der Kurfürst die mittelalterlich aussehende Burg, tatsächlich wurde sie allerdings von 1793 bis 1801 gebaut, mit allerlei Schnickschnack aus, darunter auch eine Waffenkammer mit rund 400 originalen Rüstungsteilen sowie halb verfallenen Türmchen, die bereits als Ruine erbaut wurden. Dort verbrachte Wilhelm die Sommermonate mit seiner Mätresse Karoline von Schlotheim, einer wohl glücklichen Liaison, aus der immerhin 13 Kinder hervorgingen.
Tim interessiert sich allerdings mehr für die schwarze Rüstung samt schwarzem Federpuschel auf dem Helm, die vorm Eingang steht. Wer den "Schwarzen Ritter" berührt, soll nicht mehr lange auf Erden weilen. 30 Minuten später steht Tim mit Papa vor dem imposanten Herkules, der für seine 300 Jahre noch gut in Form ist. Hier oben liegt Kassel nicht nur zu Füßen, sondern es gibt im Café Herkules Terrassen hausgemachte Torten, Kuchen und Waffeln. Wer weiß - vielleicht kommen die mittelalterlichen Zahnheilmethoden bald doch noch zu ihrem Einsatz?