Rechtsstaatsunterricht

Grundkurs Demokratie

Justizministerin Marion Gentges (CDU) startet in Tübingen die Neuauflage des Rechtsstaatsunterrichts für Flüchtlinge.

04.08.2022 UPDATE: 04.08.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 10 Sekunden
„Zusammenleben funktioniert besser mit Regeln“: Justizministerin Gentges gab selbst eine „Unterrichtsstunde“. Archivfoto: dpa

Von Theo Westermann, RNZ Stuttgart

Tübingen. Die Realität holt den sogenannten Rechtsstaatsunterricht in der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Tübingen und die prominente Dozentin schnell ein. Justizministerin Marion Gentges (CDU) spricht am Mittwochmorgen vor elf Bewohnerinnen und fünf Bewohnern der Unterkunft aus der Türkei, dem Libanon, Afghanistan, Syrien und dem Irak über Gleichberechtigung, dass der Mann nicht über die Frau bestimmen könne oder dass in Familien in Deutschland gemeinsam über die Organisation des Familienlebens gesprochen werde.

Dann bietet sie ihrem Publikum an, dass man sie auch alles fragen könne. Da fängt eine Frau aus Syrien bitterlich zu weinen an, mit tränenerstickter Stimme fragt sie die Ministerin, ob sie ihr helfen könne, ihre Kinder nach Deutschland zu bringen. Eine Helferin übersetzt schnell, die Ministerin eilt zum Trost hinzu und nimmt ihre Hand, bekennt aber bewegt: "Das ist schwer." Die 13- und 15-jährigen Töchter der Frau werden offenbar vom Ehemann in Syrien festgehalten, dort bestimmt der Mann alleine über die Kinder und deren Aufenthaltsort. Gentges kann ihr keine Hoffnung machen, kann nur erklären, dass "in Deutschland der Mann der Mutter die Kinder nicht wegnehmen darf".

Beim Neustart des Rechtsstaatsunterrichts nach zwei Jahren Unterbrechung durch Corona nutzt Gentges selbst die Gelegenheit, über den Rechtsstaat zu sprechen. "Zusammenleben funktioniert besser mit Regeln," sagt sie zu den Zuhörern, es sei ihr wichtig zu erklären "was Demokratieprinzip und Gewaltenteilung bedeutet" und "was jeder darf – und was eben nicht".

Für einen Termin zum Neustart des seit 2017 bestehenden Programms hat sich Gentges die Erstaufnahmeeinrichtung ausgesucht, die speziell für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge gedacht ist. Momentan befinden sich in der Einrichtung in Tübingen 263 Personen, erzählt Leiterin Rebekka Schranz, vorwiegend sind es Frauen mit Kindern, aber auch 70 Männer. 30 Nationen sind vertreten, aktuell sind 100 Ukrainerinnen darunter.

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Der rechtsstaatliche Unterricht ist freiwillig, die Leiterin hat alle eingeladen, die Englisch können, eine Dolmetscherin übersetzt Gentges‘ Ausführungen in Englisch, eine Helferin dolmetscht in Landessprachen. Auf Gentges folgen als weitere Vortragende Thomas Geiger, Richter am Landgericht Rottweil, und Dagmar Röhm, Richterin am Amtsgericht Tübingen – beide sind seit längerer Zeit bei dem Projekt dabei.

Dass es ein gemischtgeschlechtliches Dozenten-Duo ist, ist Absicht und Praxis im gesamten Projekt wenn möglich. Damit soll gleich eine Botschaft ausgestrahlt werden, macht die Ministerin klar, etwa dass eine Frau in Deutschland selbstverständlich auch Richterin sein kann.

Der Rechtsstaatsunterricht wird sowohl Menschen, die in Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes untergebracht sind, als auch jenen in der vorläufigen sowie der Anschlussunterbringung angeboten und zwar mit vier Unterrichtseinheiten zu je 45 Minuten. Das Projekt geht auf eine Initiative des Vereins der Richter und Staatsanwälte zurück. Der Unterricht ist nicht zu verwechseln mit den verpflichtenden Integrationskursen. 300 Richter und Staatsanwälte haben sich zur Mitarbeit angeboten. In den kommunalen Anschlussunterbringungen übernehmen in aller Regel die Volkshochschulen diesen Unterricht.

Auch inhaltlich wurde der Unterricht nachgeschärft, betont die Ministerin, nämlich mit den Themen ‚Antisemitismus‘ und ‚Rolle der Frau in Gesellschaft und Familie‘. Und fügt hinzu: "Über diese Themen müssen wir häufiger sprechen". Ansonsten geht es um Staatsaufbau, Gewaltenteilung, Grundrechte, die Rolle von Gerichten und Polizei.

Mit der Wiederaufnahme des Rechtsstaatsunterrichts reagiert das Ministerium auch auf die deutlich gestiegenen Zugangszahlen im Asylbereich. 2021 wurden 15.470 Personen erfasst, die in Baden-Württemberg verbleiben, deutlich mehr als in den Jahren 2018 bis 2020. Im ersten Halbjahr 2022 wurde der höchste Halbjahreszugang seit dem Jahr 2016 mit 8662 Antragstellern verzeichnet. Die Ukraine-Flüchtlinge sind nicht eingerechnet, da sie nicht im Asylverfahren sind. Sie stehen auch nicht im Fokus des Rechtsstaatsunterrichts.

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