"Hier gibt es über 1000 schlaue Wissenschaftler"
Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Wissenschaftsministerin Theresia Bauer besuchten die Forscher im "Idealen Nucleus" für die Wissenschaft.

Von Sören S. Sgries
Heidelberg. Was herausragende Forschung braucht? Vermutlich ließe sich schnell eine lange Wunschliste aufstellen. Kluge Köpfe. Gute Universitäten. Sehr viel Geld. An diesem Donnerstagmorgen schält sich aber noch eine andere Erkenntnis heraus. "Es braucht doch Nähe", sagt Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann. "Es ist die Nähe", sagt auch Wissenschaftsministerin Theresia Bauer. Und ein paar Forscher schwärmen eben von dieer Nähe, davon, wie lebendig es vor Corona in der Kantine und an der Kaffeemaschine zuging: "Man läuft ineinander rein."
Der Ort des Geschehens liegt am Königstuhl über Heidelberg, am Rande der Wiesen um den idyllischen Bierhelder Hof. Offiziell ist es ein Wahlkampftermin für die Heidelberger Grünen-Abgeordnete Franziska Brantner, den der Ministerpräsident hier wahrnimmt. Vor allem ist es aber ein Schaulaufen der Rhein-Neckar-Region, die zum führenden Innovationscampus für Gesundheit und Lebenswissenschaften zusammenwachsen soll.
Das große Forschungszentrum EMBL, das "Europäisches Laboratorium für Molekularbiologie", ist hier oben natürlich die zentrale Einrichtung – aber aus dem EMBL und rundherum reift Beachtliches heran. Zum Beispiel die Firma "Cellzome" unter Gründerin Gitte Neubauer, die an diesem Vormittag als erstes einen Einblick in ihre Labore gewährt.
Was genau dort geschieht? Das erklärt zunächst Daniel Pöckel. Grundsätzlich wird Grundlagenforschung für den Medikamenteneinsatz betrieben – vor allem im Bereich der Immuntherapeutik. Die Grundidee: Tumore müsste man bekämpfen können, indem man das Immunsystem der Zellen gezielt aktiviert.
Auch interessant
Das Besondere bei Cellzome: Beobachtet werden die Reaktionen auf die Wirkstoffe in einem größeren Zusammenhang, der den tatsächlichen Gegebenheiten im Körper eher entsprechen soll. Für den Laien sichtbar ist zwar trotzdem nur, dass hauchdünne Tumor-Proben in Petrischalen untersucht werden. Dem Pharmakonzern GlaxoSmithKline erschien diese Proteomik-Technologie aber so innovativ, dass er 2012 über 70 Millionen Euro (61 Millionen Pfund) investierte, um die junge Heidelberger Firma komplett zu übernehmen. Und er kaufte die Technik auch nicht einfach nur auf, sondern er baute den Heidelberger Standort weiter aus.
"Vernetzung ist kein Modewort, sondern sie treibt den Fortschritt", formuliert Ministerpräsident Kretschmann hinterher eine seiner Erkenntnisse. Wirtschaft, Hochschulen, Start-ups, Kliniken – die müsse man "eng zusammen bringen". "Nur dann können wir im internationalen Wettbewerb bestehen." Es dürfe auch keine Scheu geben, mit Pharmakonzernen zusammenzuarbeiten. Im Gegenteil: "Raus aus dem Silodenken" müsse die Devise lauten.
Beim Cellzome-Team dürfte das gut ankommen. Aus dem Führungsteam haben sich Marcus Bantscheff, Giovanna Bergamini und Paola Grandi noch die Zeit genommen, um bei einem Kaffee ausführlicher zu erklären, was den Standort so reizvoll mache – und wo sie noch Verbesserungspotenzial sehen.
Ein Problem: "Die akademische Welt nimmt die pharmazeutische Forschung zu oft noch als rein kommerziell wahr", beklagt Bergamini. Ein eher deutsches Problem, findet sie. Andere Länder seien da weiter – und der Kooperation gehöre doch die Zukunft. Grundlagenforschung sei so teuer: "Entweder man macht es zusammen – oder man ist verloren."
Bantscheff wiederum betont, dass auch der Austausch der Wissenschaftler untereinander wichtig sei – auch über die Grenzen der Institutionen hinweg. "Man muss eine kritische Masse erreichen. Das gibt es in Deutschland aber fast gar nicht." Den Heidelberger Standort sieht er aber auf einem guten Weg: "Hier gibt es über 1000 schlaue Wissenschaftler", lobt er, "ein Hauch von Cambridge/USA". Gerade für den geplanten "Innovationscampus" könne die Region daher der "ideale Nucleus" sein – mit DKfZ, Max-Planck-Institut, EMBL und dem Uniklinikum in der Nähe.
Gibt es Vergleichbares in Deutschland? "Nur München", sagt Grandi. Kurz diskutieren die drei über Berlin. Doch die Hauptstadt fällt schließlich durch.
Vielleicht spielt ja auch die idyllische Umgebung eine Rolle. Das ist jedenfalls der Eindruck, den Winfried Kretschmann in den Gesprächen gewonnen hat. "Die Mitarbeiter haben ja auch alle Familien", erzählt er. Und "in Seitenbemerkungen" sei immer wieder durchgeklungen, dass auch die vermeintlich "weichen" Faktoren eine Rolle bei der Entscheidung für einen Arbeitsplatz spielten. Passend dazu erklingt Kindergeschrei aus dem nahen "Kinderhaus", der EMBL-Betriebskita.
Die Metropolregion müsse sich ihrer Bedeutung bewusst werden, mahnt Kretschmann außerdem. "Die Konkurrenz zwischen Mannheim und Heidelberg ist nicht zukunftsweisend." Ob er da aktuelle Fusionsüberlegungen zu den beiden Unikliniken im Hinterkopf hat?
Zum Abschluss zieht die Politikergruppe ein Haus weiter, in das neu gebaute "Imaging Centre" des EMBL. Der Grundstein wurde erst 2019 gelegt, rund 48 Millionen Euro sollten investiert werden. Inzwischen kann hier schon gearbeitet werden – und zwar mit Technologien, für die es Nobelpreise gab.
Herzstück ist einerseits die Elektronenmikroskopie, die extrem hochauflösende Bilder ("Weltrekord") liefern kann. "Jetzt können wir direkt in die Zellen schauen", preist Molekularbiologe Jan Ellenberg die Vorzüge des gigantischen Geräts an, das in einer komplett von Erschütterungen und Strahlung abgeschirmten Kammer im Inneren des Neubaus platziert ist.
Der zweite Schwerpunkt: die Lichtmikroskopie (Fluoreszenzmikroskopie), für die Stefan Hell 2014 den Nobelpreis erhielt. Auch hierfür steht ein hochmodernes Gerät im EMBL-"Imaging Center". "Es gibt Momente, da ändert sich alles", beschreibt Ellenberg fast schon poetisch, wie die Technik eingesetzt werden soll: Die Lichtmikroskopie erlaube es, in lebendigem Zellmaterial entscheidende Momente zu erkennen – also beispielsweise wenn ein Bakterium an eine Zelle andockt. Diesen Moment kann man dann "einfrieren" – und im Elektronenmikroskop später detailliert anschauen.
Diese Fähigkeiten sind an sich schon revolutionär. Und im EMBL, so das Grundprinzip, kann theoretisch auch noch jeder Wissenschaftler die entsprechende Infrastruktur nutzen. Zur Einordnung: Bis zu 10 Millionen Euro kostet allein das Elektronenmikroskop. Das stellt sich niemand mal eben so in "sein" Privatlabor. Tatsächlich gibt es laut Auskunft der EMBL-Forscher nur drei bis vier Geräte weltweit, die vergleichbare Leistung bringen.
"Wir haben hier wirklich alles", zeigt sich Wissenschaftsministerin Theresia Bauer hinterher zufrieden mit der Entwicklung auf dem Königstuhl. "Und ein bisschen mehr Geld darf hoffentlich auch noch kommen", schiebt sie noch nach. Ein Anliegen, dass – so die Hoffnung der Grünen – auch die Bundestagsabgeordnete Brantner in Berlin noch einmal energisch vortragen soll. In einer Regierung? "Wir hoffen jedenfalls, dass die nächste Bundesregierung – anders als die aktuelle – klare Zusagen macht", sagt Brantner. Und lässt kaum Zweifel, dass ihre Partei dann natürlich mitreden soll. Wenn das Wahlergebnis es denn hergibt.



