"Startchancen"-Programm

Bund und Länder "investieren" 20 Milliarden Euro in die Schulen

FDP-Staatssekretär Jens Brandenburg lobt die ambitionierten Ziele. Die Förderung sei angesichts von immer schlechteren Ergebnissen von Bildungsstudien dringend notwendig.

12.10.2024 UPDATE: 12.10.2024 04:00 Uhr 4 Minuten, 29 Sekunden
In rund 2100 Schulen ging das neue Förderprogramm jetzt an den Start. Profitieren sollen vor allem benachteiligte Schüler. Foto: dpa
Interview
Interview
Jens Brandenburg
Staatssekretär im Bundesbildungsministerium

Von Sören S. Sgries

Heidelberg/Berlin. Mit dem jüngst angelaufenen "Startchancen"-Programm pumpen Bund und Länder gemeinsam eine ordentliche Summe in die Schulen: 20 Milliarden Euro sollen über einen Zeitraum von zehn Jahren fließen – je zur Hälfte finanziert aus Bundes- und Landesmittel. FDP-Politiker Jens Brandenburg (38), Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, spricht im Interview darüber, warum der Bund sich hier in der Verantwortung sieht.

Herr Brandenburg, Bildung ist Ländersache. Warum war es aus Ihrer Sicht dennoch so wichtig, dass sich der Bund mit dem Startchancen-Programm umfassend einbringt und relativ viel Geld bereitstellt?

Es ist das mit Abstand größte Bund-Länder-Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik. Dieser Schulterschluss ist dringend nötig. Das zeigen Pisa und viele weitere Bildungsstudien der letzten Jahre. Immer weniger Schülerinnen und Schüler erreichen im Lesen, Schreiben und Rechnen noch die Mindeststandards. Der Rückgang ist dramatisch – stärker als in anderen Ländern. Das bedeutet schlechtere Bildungschancen und Aufstiegsperspektiven für jeden Einzelnen. Und auch als Volkswirtschaft können wir es uns im Fachkräftemangel schlicht nicht leisten, auf das große Potenzial dieser jungen Menschen zu verzichten.

Also muss sich im Bildungssystem etwas ändern.

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Ja. Die Bildungsforscher fordern klar, dass wir uns gezielt auf die Schulen konzentrieren, wo die Herausforderungen am größten sind. Also diejenigen mit dem größten Anteil sozial benachteiligter Schülern. Aus Elternhäuser mit geringem Einkommen und ohne deutsche Muttersprache. Sie sind systematisch im Bildungssystem benachteiligt und benötigen mehr Unterstützung. Nach den verheerenden Schulschließungen in der Corona-Pandemie sind wir es der jungen Generation schuldig, jetzt endlich bessere Chancen zu schaffen.

Jetzt hat das erste Schuljahr begonnen, wo diese Mittel tatsächlich auch schon eingesetzt werden. Was ist Ihr Eindruck: Nutzen die Bundesländer das Geld wie angedacht? Oder werden nur Haushaltslücken gestopft?

Das werden die nächsten Jahre beweisen. Aber wir haben anders als in früheren Programmen für eine klare Transparenz und Mechanismen gesorgt, damit das Geld wirklich an den Schulen ankommt. Aber es gab vor einigen Monaten noch große Widerstände gegen das Programm. Das Geld solle doch lieber mit der Gießkanne verteilt werden. Es war auch nicht einfach, die Zustimmung aller 16 Bundesländer zu bekommen. Das hat sich radikal geändert. Quer durch die Bank, in der Bildungswissenschaft und -praxis erlebe ich eine große Begeisterung und Tatendrang. Es geht uns um systemische Veränderungen an den Schulen und das Momentum sollten wir jetzt nutzen.

Wie belegen Sie, dass diese Idee angenommen wird?

Wir hatten mit den Ländern vereinbart, dass mindestens 1000 allgemein- und berufsbildende Schulen in diesem Schuljahr starten sollen. Jetzt sind es bundesweit bereits 2125 Schulen. Die Nachfrage ist viel größer, als das viele anfangs erwartet hatten. Aber natürlich: Ein Programm über zehn Jahre mit nachhaltigen Veränderungen ist kein Selbstläufer. Das muss sich auf Strecke behaupten. Der Anfang ist gemacht.

In Baden-Württemberg gibt es relativ viel Bewegung in der Schulpolitik. Gerade was frühkindliche Bildung und entsprechende Stärkung angeht. Hat es Grün-Schwarz das leichter gemacht, dass jetzt jährlich 1,3 Milliarden Euro aus Berlin kommen?

Es ist ganz wichtig, dass wir diesen Kraftakt jetzt gemeinsam schaffen – in der Koalition auf Bundesebene und mit den für das Schulsystem ja eigentlich primär zuständigen Landesregierungen. Die Vorfreude auf das Startchancen-Programm ist in Baden-Württemberg sehr groß. Frau Schopper war ja auch persönlich mit uns an den Koalitionsverhandlungen beteiligt. Das Vorhaben war für sie also nicht neu.

Das Dauerthema Lehrkräftemangel behebt dieses Programm aber nicht.

Es ist kein Allheilmittel. Aber wir gehen eine Kernherausforderung an: Dass eben nicht zählen darf, woher man kommt, sondern wohin man will. Diese Chancengerechtigkeit für junge Leute zu schaffen, ist unsere gemeinsame Verantwortung.

Ein bisschen personelle Entlastung sollen aber Mittel für multiprofessionelle Teams bringen. Funktioniert das?

Ja, wir sehen doch weltweit in den erfolgreichsten Bildungssystemen, dass die Lehrkräfte dort viel mehr Unterstützung haben für Aufgaben neben dem eigentlichen Unterricht. Das gilt für Schulsozialarbeit, aber auch die Verwaltung, IT-Administration und Unterrichtsassistenz. Gerade für die Schulen, die besonders von sozialen Herausforderungen betroffen sind, setzen wir auf eine besondere Entlastung für die Lehrkräfte.

Gerade die Kommunen machten in den vergangenen Jahren oft die Erfahrung, dass neue Projekte angeschoben werden – und nach ein paar Jahren muss man das finanziell alleine stemmen. Wie sicher ist es, dass dieses Programm tatsächlich über zehn Jahre durch den Bund finanziert werden wird?

Die Bund-Länder-Vereinbarung gilt, die Verträge sind unterschrieben. Und ich erlebe im politischen Raum inzwischen eine breite, parteiübergreifende Unterstützung für das Programm. Wir haben sehr ambitionierte Ziele gesetzt, beispielsweise den Anteil der Schüler und Schülerinnen an den Schulen, die die Mindeststandards in den Grundkompetenzen nicht erreichen, zu halbieren. Die wollen wir erreichen. Die Finanzierung steht und ist für die zehn Jahre entsprechend verankert.

Das heißt, auch schwierigen Haushaltsverhandlungen fällt dieses Programm nicht zum Opfer?

Nein. Schon rechtlich wäre das kaum mehr möglich. Aber es wäre auch in der Sache verheerend, die Axt ausrechnet an die Zukunft dieser Schulen zu legen. Das wird nicht passieren.

Aber die Finanzminister kämpfen um jede Million.

Die politische Diskussion ist inzwischen eine andere: Nachdem das Startchancen-Programm so erfolgreich gestartet ist, gibt es die Forderung, das auszubauen und auch auf den Kita-Bereich zu übertragen. Es geht eher um ein Mehr davon als um ein Weniger. Das Institut der Deutschen Wirtschaft hat errechnet, dass sich das Startchancen-Programm langfristig auch für die öffentlichen Haushalte lohnt. Der fiskalpolitische Nettoeffekt liegt bei etwa 100 Milliarden Euro. Jeder investierte Euro bringt also den fünffachen Effekt, weil Fachkräfte nur dann erfolgreich wirtschaften und Steuern zahlen werden, wenn sie Zugang zu guter Bildung haben. Eine rundum kluge Investition, das wissen auch die Finanzminister.

Trotzdem bleibt das Misstrauen. Aktuell verhandeln Sie über die Zukunft des Digitalpakts – und da will der Bund künftig weniger beisteuern. Also es fehlt doch schon Geld für die Bildungspolitik.

Der Bund investiert im nächsten Jahr 2,5 Milliarden Euro mehr in Bildung und Forschung, also noch die Vorgängerregierung geplant hatte. Da sind die Forschungszulage und das Startchancen-Programm noch gar nicht eingerechnet. Wir haben also einen klaren Schwerpunkt. Auch von den für das Schulsystem zuständigen Ländern erwarten wir aber einen eigenen Beitrag.

Statt einer 90:10-Aufteilung wollen Sie beim "Digitalpakt 2.0" jetzt zu einer 50:50-Einigung kommen.

Das ist doch nur ein faires Miteinander. Es geht ja um eigentliche Länderaufgaben. Und beim Startchancen-Programm sehen wir doch, dass wir uns letztlich einigen konnten. Die Finanzierungsaufgabe darf dann nicht einseitig den Kommunen aufgedrückt werden. Da sind schon auch die Landeshaushalte mit in der Pflicht. Die Schulen brauchen dringend mehr Unterstützung. Der Digitalpakt 2.0 muss kommen und wir werden unseren Beitrag leisten.

Wenn der Bund in der Bildungspolitik mitreden will, hieß es oft, das sei dann der "goldene Zügel": Was ist das heimliche Ziel hinter den aktuellen Investitionen?

Das Ziel sind bessere Bildungschancen für alle, unabhängig von der sozialen Herkunft. Schulpolitik ist nach dem Grundgesetz Aufgabe der Länder. Aber der dramatische Rückgang im Bildungsniveau kann uns doch nicht ruhen lassen. Ich könnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, in so einer verheerenden Lage nur auf formale Zuständigkeiten zu verweisen. Da sind wir wirklich in einer gemeinsamen Verantwortung. Wir wollen die Probleme lösen.

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