Wie das Bürgerforum das Bildungspaket mitgestaltet hat
Wenn die stille Mehrheit mitredet: Bei der Ausarbeitung der Gesetzesänderungen war das Bürgerforum G8/G9 vorgeschaltet. Welche Rolle spielte die "Politik des Gehörtwerdens"?

Von Tanja Wolter, RNZ Stuttgart
Stuttgart/Hockenheim. In den Sommerferien ist es ruhig um die grün-schwarzen Bildungsreformen geworden. Die Gesetzesänderungen für das neunjährige Gymnasium (G9) und für die Sprachförderung hat das Kabinett bereits auf den Weg gebracht, bis Ende des Jahres wird der Landtag darüber entscheiden.
Doch Mirko Köhler ist immer noch ein bisschen enthusiastisch – und auch stolz. Als einer der Teilnehmer des Bürgerforums G8/G9 hatte er sich in das Thema reingefuchst und an Empfehlungen für die Politik mitgewirkt. "Ich fühle mich beteiligt, absolut", sagt der 43-Jährige aus dem Raum Hockenheim im Nachhinein. "Eine stärkere Stimme kann ich als Bürger nicht haben."

Im Koalitionsvertrag hatte Grün-Schwarz noch vereinbart, keine grundlegenden Strukturdebatten in der Schulpolitik zu führen und damit auch das heiße Eisen "Turbo-Abi" nicht anzupacken. Doch der 100.000-fach unterzeichnete Volksantrag der Initiative "G9 jetzt" fand in fast allen Parteien Unterstützer und brachte dann auch die Grünen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Zugzwang.
Der Gesetzentwurf der Initiative, der eine Wahlfreiheit und dabei die schnellstmögliche Rückkehr zu G9 vorsah, wurde zwar abgelehnt. Die Regierung zeigte sich aber offen für eine Reform und kündigte eigene Schritte an.
Das vom Staatsministerium initiierte Bürgerforum G8/G9 war eine Etappe auf dem Weg dorthin. Mehr als 6000 Einladungen wurden im Spätsommer 2023 verschickt, eine davon landete in Köhlers Briefkasten. Der Wirtschaftsinformatiker und Personalleiter eines IT-Unternehmens war überrascht: "Ich hatte vorher noch nichts von einem Bürgerforum gehört."
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Hintergrund
Bürgerbeteiligung
Zu Landesthemen gab es bereits mehrere Bürgerforen, unter anderem zur Altersversorgung der Landtagsabgeordneten und zum Thema "krisenfeste Gesellschaft". Auch auf kommunaler Ebene wird das Instrument der Zufallsbürger mehr
Bürgerbeteiligung
Zu Landesthemen gab es bereits mehrere Bürgerforen, unter anderem zur Altersversorgung der Landtagsabgeordneten und zum Thema "krisenfeste Gesellschaft". Auch auf kommunaler Ebene wird das Instrument der Zufallsbürger mehr und mehr eingesetzt. Geregelt ist die Auswahl in einem Landesgesetz zur dialogischen Bürgerbeteiligung, das den Zugriff auf Einwohnermeldedaten gestattet.
Zu vielen Gesetzesvorhaben des Landes können die Bürgerinnen und Bürger inzwischen auch online ihre Meinung äußern, aktuell etwa zum neuen Landesmobilitätsgesetz oder zur Änderung des Landesplanungsgesetzes. Das nächste große Bürgerforum auf Landesebene wird zum Nichtraucherschutzgesetz abgehalten. Staatsrätin Barbara Bosch erwartet hierzu "eine lebendige, aber auch sehr kontroverse Debatte". "Ob in einer Gartenwirtschaft direkt am Tisch nebenan geraucht wird oder nicht, betrifft alle Menschen, und fast jeder hat seine eigene Meinung dazu."
Informationen zu den Beteiligungsmöglichkeiten und Projekten gibt es unter www.beteiligungsportal.baden-wuerttemberg.de und www.servicestelle-buergerbeteiligung.de
So ging es auch Emelie Steelandt, die selbst das G8 absolvierte und angehende Grundschullehrerin ist. "Ich konnte mir anfangs nicht viel darunter vorstellen", sagt die 25-Jährige aus der Nähe von Heidelberg. Beide bezeichnen sich als eher unpolitisch, waren aber von der Möglichkeit der Mitwirkung angetan. Letztlich wurden sie als "Zufallsbürger" für das anfangs 64-köpfige Bürgerforum ausgelost. Übrig blieben am Schluss 55 Teilnehmer.
Die Landesregierung hat inzwischen ausgewertet, inwiefern die Ende 2023 vorgestellten Empfehlungen des Forums und die im April 2024 präsentierten Bildungsreformen übereinstimmen. Aus der Gegenüberstellung, die unserer Redaktion vorliegt, geht hervor, dass sich mehrere Punkte decken oder in eine vergleichbare Richtung gehen.
So hat der Bürgerrat eine Rückkehr zum früheren G9 mit klarer Mehrheit abgelehnt und stattdessen ein "neues" G9 als Regelfall und gleichzeitig eine Reform des G8 vorgeschlagen. Das Bildungspaket sieht nun vor, dass das G9 modernisiert wird – unter anderem durch Stärkung des MINT-Bereichs sowie die Einführung des Fachs Informatik/Medienbildung. Wie sich das im weiterhin möglichen G8 widerspiegelt, ist allerdings noch offen.
Eine weitere Empfehlung war die Förderung von Spracherwerb und Basiskompetenzen in Kitas und Grundschulen, um mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Das neue Konzept "SprachFit" des Landes sowie das Startchancen-Programm des Bundes gehen genau in diese Richtung. Zwar gaben dafür die schlechten Ergebnisse vieler Schüler-Vergleichstests den Ausschlag.
Es zeigt aber, dass Politik und Bürgermeinung hier übereinstimmen. Die Reformierung der Grundschulempfehlung wurde grundsätzlich auch von den Bürgern empfohlen, wenn auch ohne den jetzt beschlossenen "Potenzialtest" als letzte Instanz. Andere Anregungen wie kreativere Unterrichtsformate und die Entschlackung alter Lehrpläne finden sich nicht explizit im Reformpaket des Landes.
Barbara Bosch (parteilos), Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, betont im Gespräch: "Der große Erfolg dieses Bürgerforums ist es, dass es das Thema geöffnet hat und in die Tiefe gegangen ist. Es ging um viel mehr als die Frage ,Rückkehr zu G9 – Ja oder Nein‘." Das Forum habe gezeigt, dass ein solches Format zu guten Ergebnissen beitragen könne. "Viele Punkte sind in das beschlossene Bildungspaket eingeflossen."
Bosch macht zugleich deutlich, dass es nicht zu jedem Thema ein Bürgerforum geben kann. "Das ist das umfangreichste Instrument, die Premiumklasse der Bürgerbeteiligung." Solch ein Forum sei kein Selbstzweck. Es diene dazu, "zu einem sehr frühen Zeitpunkt ein kontroverses Thema aufzugreifen und der Politik Hinweise zu geben, wie die ansonsten stille Mehrheit der Bürger dazu steht".
Ob die Politik dies dann umsetzt, ist für die frühere Oberbürgermeisterin von Reutlingen nicht ausschlaggebend: "Am Ende entscheiden immer die Volksvertreter." Unabhängig vom Ergebnis seien die Menschen mit der Demokratie aber zufriedener, wenn sie gefragt würden.
Mirko Köhler hat jedenfalls den Eindruck, dass das Bürgerforum G8/G9 in der Politik "eine Welle geschlagen hat". Kritische Stimmen, die von einer "Alibiveranstaltung" oder einem "Sitzkreis" sprachen, kann er nicht nachvollziehen. Er selbst habe gar nicht erwartet, dass alles umgesetzt werde, sondern verstehe die Empfehlungen als eine "Richtschnur".
Emelie Steelandt zeigt sich überzeugt, dass das Bürgerforum "viel initiiert hat". Größtes Pfund ist für sie, dass das G9 mit neuen Inhalten modernisiert wird. Vom Verfahren selbst und der Moderation ist sie "positiv überrascht". Anfangs sei sie zurückhaltend gewesen, habe viel beobachtet. "Aber ich habe den Eindruck bekommen, dass auch meine Meinung interessiert."