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Bürgerforum empfiehlt Rückkehr zu G9 (Update)

Den Kindern soll mehr Zeit gegeben werden. Es geht aber um mehr als nur die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium.

11.12.2023 UPDATE: 11.12.2023 11:55 Uhr 4 Minuten
Symbolfoto: dpa

Von Sören S. Sgries

Heidelberg/Stuttgart. Seit dem Sommer haben sich 55 geloste "Zufallsmitglieder" in einem Bürgerforum ausführlich mit der Frage nach der Dauer des allgemeinbildenden Gymnasiums auseinandergesetzt. Das Ergebnis dieses Prozesses wurde am Montag in Stuttgart vorgestellt – mitsamt einer 15-seitigen "Kurzfassung" eines Gutachtens zur Bildungspolitik. 48 Empfehlungen sind das, ersehen jeweils mit einem "Abstimmungsergebnis", das zeigt, wie viel Unterstützung es im 55-köpfigen Gremium gab.

Das Ergebnis nach einem halben Jahr Arbeit: Mitglieder des „Bürgerforums“ präsentieren das Abschlussgutachten. Von links: Moderatorin Antje Grobe, Ursula Dow,Staatsrätin Barbara Bosch, Sebastien Gambin, Tugba Veli. Foto: Tom Weller

Was ist das zentrale Ergebnis? Mit Blick auf die G8/G9-Frage ist das zweifellos die Festlegung darauf, dass "ein neues G9" zum Regelfall an den allgemeinbildenden Gymnasien werden soll. Große Gymnasien sollen zudem "G8-Schnellläufer-Züge" erhalten. "Auch im ländlichen Raum sollte pro Kreis mindestens ein G8-Zug angeboten werden", so die Forderung des Bürgerforums. Hinter diese Position stellten sich 49 Personen bei zwei Gegenstimmen und vier Enthaltungen.

Wie sieht es mit dem umgekehrten Weg aus: die Weiterführung von G8 als Regelfall, aber mehr G9-Modellschulen? Diese Option fällt im Gremium durch – mit 40 Gegenstimmen und zehn Enthaltungen. Nur fünf Personen befürworten einen solchen Plan.

Was bemängelt denn das Forum an G8? Hier tauchen in dem Kurzgutachten verschiedenen Aspekte auf. So sind 46 Personen der Meinung, dass das ursprüngliche Ziel der G8-Reform, nämlich durch jüngere Absolventen auch wirtschaftlich im internationalen Vergleich besser dazustehen, verfehlt wurde. Eine klare Mehrheit von 46 Personen denkt zudem, dass junge Menschen in der Pubertät mehr Zeit brauchten, "um Verantwortung zu lernen und Orientierung zu finden". Die nahezu einhellige Erwartung: "G9 ermöglicht einen längeren Reifeprozess."

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Wünscht sich das "Bürgerforum" also eine Rückkehr in das Schulsystem von vor 2004, vor der Einführung von G8? Nein. Tatsächlich zeigt sich das Bürgerforum (ohne Gegenstimme) überzeugt davon, dass es "weder bei G8 noch bei einer Rückkehr zum alten G9" die Sicherheit gebe, dass mit dem aktuellen Schulsystem die Bildungsziele erreicht werden können. "Beides müsste reformiert werden", so die Grundüberzeugung. Die klare Mehrheit empfiehlt "dringend eine ganzheitliche, schulartübergreifende Schulreform für bessere Umsetzung der Bildungsziele, Förderung der Inhalte und Kompetenzen, Reduzierung von Belastungen und für mehr Bildungsgerechtigkeit", heißt es.

Was soll denn ein modernes Schulsystem leisten? Ein wichtiger Aspekt (und der einzige, dem alle 55 Zufallsbürger zustimmen): Es soll mehr Zeit zum Lernen, Üben und Vertiefen des Unterrichtsstoffs zur Verfügung stehen. Scharfe Kritik gibt es auch daran, dass im aktuellen System keine ausreichende Bildungsgerechtigkeit gegeben sei und "das Erreichen der Bildungsziele stark vom Bildungsstand, vom finanziellen Hintergrund und den Unterstützungsmöglichkeiten in der Familie abhängt". 33 Bürger wünschen sich "mehr Durchlässigkeit zwischen den Schularten" (4 Gegenstimmen, 18 Enthaltungen), 51 fordern "moderne pädagogische Konzepte" und einen Abschied von "überfrachteten, alten Lehrplänen".

Wie stellt sich das Bürgerforum die Umstellung auf G9 vor? "Eine plötzliche Umstellung würde zu großen Belastungen der Lehrerschaft und hohen Kosten führen”, heißt es in dem Gutachten. Daher wird "eine gestaffelte Einführung ab Klasse 5 von unten nach oben" empfohlen (48 Stimmen dafür, eine dagegen). Dieser Umbau, so der Mehrheitswunsch, soll gleichzeitig für den Aufbau von personellen Ressourcen genutzt werden.

Was ist mit der Kostenfrage, die zuletzt auch von Ministerpräsident Winfried Kretschmann gestellt wurde? Dem Forum sei es bewusst, dass die Umstellung "ein großer finanzieller Aufwand" sei, heißt es. Es habe aber kein Experte gesagt, es wäre "unmöglich". Grundsätzlich, so der Wunsch, sollte die Frage nach der Reform des Bildungssystems "nicht auf eine Kostendebatte um G8/G9 reduziert werden", sondern ganzheitlich geführt werden. Ohne Gegenstimmen wird eine "gerechte Aufteilung der Gelder für alle Schularten" gefordert. Notwendig sei "eine Umstrukturierung des Haushalts zugunsten der Bildung der Kinder". "Die Bildung unserer Kinder sollte es uns wert sein."

Werden auch andere Schularten bedacht? Teilweise. 29 der Bürger fordern jedenfalls, dass vor einer Umstellung auf G9 auch Auswirkungen auf andere Schularten geprüft werden müssten. 12 stimmen nicht zu, 14 enthalten sich. Mehrheitlich betont wird die Bedeutung von Förderung in Kitas und Grundschulen (41 Stimmen, 4 Gegenstimmen). 38 halten eine "gut strukturierte, wählbare Ganztagsschule" für zentral, um Bildungsgerechtigkeit zu erreichen. Eine klare Mehrheit sieht zudem einen hohen Bedarf an Schulsozialarbeit.

Was ist mit weitergehenden Reformen? Hier tauchen einige Punkte auf, die aber im Bürgerforum eher umstritten sind. Den radikalen Schnitt eines "schlankeren Bildungssystems" mit weniger Säulen wünschen sich zum Beispiel nur 14 von 55 Teilnehmern, 25 sind dagegen. Auch längeres gemeinsames Lernen, etwa eine sechs Jahre dauernde Grundschulzeit, befürworten nur 27. 17 sind dagegen.

Kommt nach diesem Votum jetzt tatsächlich die Rückkehr zu G9? Das ist noch unklar. Zumindest die Oppositionsparteien SPD und FDP fordern das. Wie sich die grün-schwarze Landesregierung positionieren wird, könnte sich am Dienstag zeigen: Da wollen die Koalitionsspitzen zu den Ergebnissen beraten. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), ein G9-Skeptiker, hatte allerdings bei der Einsetzung des Gremiums bereits klargestellt: "Die Bürger beraten – nicht mehr und nicht weniger." Er wolle sich keinesfalls "unter Zugzwang" setzen lassen.



Reaktionen auf das Votum

> Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne): "Sie (die Teilnehmer des Bürgerforums) haben viel Zeit, Energie und ihre Expertise investiert. Damit hat das Bürgerforum die Debatte auf ein breiteres Fundament gestellt. (...) Meine Koalition wird sich die Empfehlungen und den Bericht des Bürgerforums nun genau anschauen und wir werden uns intensiv mit den Argumenten und Ideen auseinandersetzen."

> Grünen-Fraktionsvorsitzender Andreas Schwarz: "Mit der Stellungnahme des Bürgerforums wollen uns (...) ernsthaft auseinandersetzen."

> CDU-Fraktionschef Manuel Hagel: "Ich danke dem Bürgerforum für die wertvolle Arbeit und die wichtigen, kreativen und auch differenzierten Impulse, die wir gründlich beraten und selbstverständlich auch wo immer möglich miteinbeziehen werden."

> SPD-Fraktionschef Andreas Stoch: "Das Votum für G 9 kann und darf der Ministerpräsident nicht überhören. (...) Vor allem die Grünen müssen ihre Blockadehaltung endlich aufgeben, wenn sie unsere Schulen für die Zukunft erfolgreich aufstellen möchten."

> FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke: "Nun gibt es für den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und seine Grünen keine Ausreden mehr. Es wird Zeit für Veränderungen in der Schulstruktur – Koalitionsvertrag hin oder her."

> Landeselternbeirats-Vorsitzender Sebastian Kölsch: "Wichtig ist uns, dass es nicht um einen Verteilungskampf eines fest definierten Kuchenstücks zwischen den Schularten geht, sondern dass das Kuchenstück vergrößert werden muss."

> Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen BW: "Wer jetzt wieder mit Kleinklein und homöopathischen Einzelmaßnahmen um die Ecke kommt, die nur weitere Wunden in unser Schulsystem reißen, hat nicht verstanden, dass es für uns gerade ums Ganze geht."

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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