War jahrelanger Kampf für G9-Abitur den Einsatz wert?
Corinna Fellner und Anja Plesch-Krubner im RNZ-Interview über "G9 jetzt!BW" und sieben Jahre ehrenamtlichen Einsatz.

Von Jens Schmitz, RNZ Stuttgart
Stuttgart. Corinna Fellner und Anja Plesch-Krubner sammelten 107.000 Unterschriften für einen Volksantrag zum neunjährigen Abitur und bewirkten in der Folge ungeahnte Strukturänderungen im baden-württembergischen Bildungswesen. Den Mitstreitern ihrer Elterninitiative geht das nicht weit genug, sie wollen weiterkämpfen. Die Gründerinnen jedoch ziehen sich jetzt zurück.
Frau Fellner, Frau Plesch-Krubner, gerade hat die Elterninitiative "G9 jetzt! BW" ein Volksbegehren angekündigt, da ziehen Sie sich aus der Leitung zurück. Warum?
Fellner: Das war eine ehrenamtliche Tätigkeit, die sich zu einem Vollzeitjob ausgewachsen hatte, und wir haben das siebeneinhalb Jahre lang durchgehalten. Da hat die Familie zeitweise darunter gelitten, aber für mich war auch der Zeitpunkt gekommen, dass es an meine körperlichen Grenzen ging.
Wir haben ja massiv etwas erreicht. Der Aufwand, der jetzt noch reingesteckt werden müsste, ist ungleich höher, als das, was ich noch hineingeben könnte, so dass ich hier leider einen Schlussstrich ziehen muss.
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Plesch-Krubner: Natürlich ist es schade, dass nicht alle Corona-Jahrgänge von G9 profitieren sollen. Aber wir müssen auch achtgeben, dass wir uns nicht dem Vorwurf aussetzen, die gymnasialen Eltern bekämen den Hals nicht voll genug. Denn mit dem Argument müsste man auch den Corona-Schülern aller anderen Schularten ein zusätzliches Jahr geben.
Wir waren in sehr konstruktiven Gesprächen mit den politisch Verantwortlichen in Stuttgart und wir glauben, dass jetzt vielleicht eher der Zeitpunkt wäre, über untergesetzliche Maßnahmen für die Corona-Jahrgänge nachzudenken. Wir gehen davon aus, dass am Gesetzentwurf selbst längst geschrieben wird, dass das also ziemlich unverrückbar ist. Und dass auch die Schulleiter sonst vermutlich mehrheitlich nicht mehr mitgehen.
Wie schauen Sie zurück auf die vergangenen Jahre? Hat sich Ihr Engagement gelohnt?
Fellner: Für unsere Kinder nicht mehr – doch das war uns bereits sehr früh bewusst. Meine Familie wohnt an der bayerischen Grenze. Unser Sohn wäre in der 11. Klasse G9, wenn wir vor zehn Jahren in Bayern einen Bauplatz oder ein Haus gefunden hätten. Wir haben natürlich viel gelernt, zum Beispiel darüber, wie Politik funktioniert.
Dass es sich rentieren kann, aufzustehen und etwas zu tun, aber auch dass es sehr aufwendig sein kann und man einen verdammt langen Atem braucht. Ich bin immer noch hin- und hergerissen zwischen: Yes, wir haben es (für die Schüler) geschafft, und: Meine Güte, hätte ich meine freie Zeit nicht besser anlegen können?
Plesch-Krubner: Ich freue mich wahnsinnig für die nachkommenden Kinder ab der vierten Klasse. Mit Blick auf die direktdemokratischen Instrumente sagt man uns, wir hätten etwas Historisches erreicht. Wir haben es geschafft, einen Mehrheitswillen sichtbar zu machen, und die Politik gezwungen, eine gescheiterte Reform rückgängig zu machen. Dass wir es mit dem Volksantrag geschafft haben, das Steuer herumzureißen, das ist schon toll.
Ein Gegenargument war, dass hier gar keine Mehrheit kämpft, sondern vor allem das Bildungsbürgertum, und zwar für Verbesserungen ausgerechnet an derjenigen Schulart, der es im Vergleich ohnehin noch am besten geht. Hat Sie diese Kritik beschäftigt?
Fellner: Damit haben wir uns oft beschäftigt. Natürlich müsste für die anderen Schularten auch jemand aufstehen. Aber unsere Kinder waren zu dem Zeitpunkt auf dem Gymnasium. Wir wissen nur ansatzweise, wie es an den anderen Schularten läuft. Wenn ich das nicht weiß, kann ich mich nicht aufschwingen, um z.B. für die Realschule etwas zu ändern.
Plesch-Krubner: Teile und herrsche, das ist natürlich eine uralte politische Taktik. Man wollte die Eltern, Gremien und Verbände gegeneinander ausspielen. Ich finde es unsäglich, so einen Klassenkampf zu eröffnen. Denn wir kämpfen ja gerade dafür, dass am Gymnasium eine soziale Durchmischung stattfindet, dass da wirklich die Kinder hinkommen, die es kognitiv leisten können, und nicht nur die aus gutem Elternhaus, wo die Eltern helfen und Nachhilfe finanzieren. G9 ist hier ein Beitrag zur Chancengleichheit auf gymnasialem Niveau.
In Ihrer Abschieds-Pressemitteilung steht, dass davon auch Schüler anderer Schularten profitieren könnten. Inwiefern?
Plesch-Krubner: Natürlich können wir nicht ins Kleinklein der schulorganisatorischen Beschlüsse reingehen, wir wollen unsere Kompetenzen nicht überschätzen. Aber durch G9 werden in den Klassen 5 und 6 zum Beispiel Deputate frei. Die könnte man in die Unterstützung der höheren Klassen stecken, in dem man etwa in Mathe, Deutsch und Englisch kleinere Klassen bildet.
Man könnte auch Zehntklässlern, die sich noch nicht reif für die elfte fühlen, die Möglichkeit bieten, die 10. Klasse nochmals zu besuchen, zur zeitlichen Entlastung allerdings nur in jenen Fächern, die sie in der Kursstufe belegen werden. Wenn man das kostenneutral hinbekäme, könnte man das Unterstützungsprogramm "Rückenwind" vermehrt in diejenigen Schularten bringen, die nicht gymnasial sind.
Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Initiative "G9 jetzt! BW" wollte G9 zunächst im Format der Modellschulen sofort und für alle Klassen und erst im zweiten Schritt die Einführung des neuen G9 . Das wurde im Landtag abgelehnt. Die Initiative will ihren Entwurf nun per Volksbegehren weiterverfolgen, damit auch die Corona-Jahrgänge davon noch etwas haben. Sie sehen das anders?
Fellner: Dass den Corona-Schülern noch etwas gegeben werden sollte, sehe ich auch so. Aber seit den Beschlüssen der Landesregierung zum neuen G9, haben wir eine ganz andere Situation als zu dem Zeitpunkt als der Gesetzentwurf entstand und der Volksantrag gestartet wurde. Damals gab es bis auf 43 Modellschulen kein G9, deshalb zeigten wir eine schnellstmögliche Einführung in zwei Stufen mit Beteiligung der laufenden Klassen auf.
Jetzt wird an einem endgültigen neuen G9-Bildungsplan gearbeitet und es gibt einen Regierungsbeschluss zur Einführung dieses G9 zum übernächsten Schuljahr. Man kann den Gesetzentwurf nicht mehr ändern – würde also den "überholten" Entwurf zur Unterschrift stellen. Deshalb tue ich mich schwer damit, ihn weiterzuführen. Die Passung ist nicht mehr gegeben.
Die Initiatorinnen
> Anja Plesch-Krubner (56) ist ausgebildete Ärztin. Sie wohnt in Heidelberg und hat zwei Kinder im Alter von 17 und 21 Jahren.
> Corinna Fellner (53) ist ausgebildete Industriekauffrau. Sie wohnt bei Wangen im Allgäu, ihre Kinder sind 17 und 19 Jahre alt.