Kinder sind "keine Schafe", die durch "Gatter gelenkt werden"
Die Heidelbergerin Anja Plesch-Krubner hat mit ihrer Initiative die G9-Debatte angestoßen. Beim Bürgerforum bleibt sie skeptisch.



Von Sören S. Sgries
Heidelberg. Zusammen mit Corinna Fellner hat Anja Plesch-Krubner den Volksantrag für die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium auf den Weg gebracht. Im Interview spricht die Heidelbergerin über aktuellen Stand ihrer Stimmensammlung und die Erwartungen an das G9-Bürgerforum, das am Samstag, 30. September, erstmals zusammenkommen soll.
Frau Plesch-Krubner, fast 30.000 Unterschriften von 39.000 haben Sie bereits zusammen. Wie zufrieden sind Sie damit?
Es gab leider Schwierigkeiten, die wir so nicht erwartet hätten. Wir haben uns verschätzt. Nachdem es furios losgegangen war, kam eine Schwächephase. Ich glaube, die Leute waren sich zu sicher, dass wir es schon schaffen werden. Und es bleibt weiterhin ein Problem, die Informationen über unseren Volksantrag in die Masse zu tragen.
Aktuell läuft es aber wieder?
Auch interessant
Durch eine engmaschige, transparente Kommunikation über den jeweiligen Stand im Endspurt wurden viele wachgerüttelt. Wir haben jetzt viele Unterstützergruppen, hatten einen Aktionstag am 9.9. – da haben wir wirklich tolle Zahlen erreichen können. Trotzdem fehlen noch 10.000 Stimmen und es bleiben nur noch sieben Wochen.
Parallel zu Ihrem Endspurt beginnt am Samstag das "Bürgerforum G8/G9" der Landesregierung. Ein Erfolg für Sie – oder eher ein Hindernis?
Zunächst haben wir gemerkt, dass es die Menschen abgelenkt hat. Sie haben geglaubt, dass wir es jetzt schon geschafft haben. Es gibt ja sogar Stimmen, die sagen, das war ein Ablenkungsmanöver der Landesregierung. Tatsächlich fiel in diese Zeit auch der Rückgang der Unterschriften. Aber: Wenn es wirklich zu dem Ergebnis führt, an das wir fest glauben, nämlich zur Empfehlung einer Rückkehr zu G9 mit G8-Option, dann würde es unseren Volksantrag unterstützen.
Der Volksantrag bleibt aber wichtig?
Ja. Er ist – das muss man immer wieder betonen – als einziges dieser beiden Instrumente politisch verbindlich und bindend. Die Empfehlungen des Bürgerforums, das hat Ministerpräsident Kretschmann ja sehr deutlich gemacht, müssen von der Landesregierung überhaupt nicht aufgegriffen werden.
Inwiefern sind Sie denn als Initiative am Bürgerforum beteiligt?
Wir dürfen in der zweiten Sitzung, am 12. Oktober, unser elterliches Plädoyer halten. Und es werden drei bis vier Experten zu Gehör kommen. Wer, das werden die Zufallsbürger an diesem Samstag entscheiden. Vorschläge kamen vom Kultusministerium, von Verbänden, aber auch von uns. Da hoffen wir, dass aus den womöglich 20 bis 30 Vorschlägen auch Experten ausgewählt werden, die wir vorgeschlagen haben. Wenn wieder nur die üblichen Berater der Landesregierung mit ihren hinlänglich bekannten Einschätzungen zu Wort kommen, könnten die Zufallsbürger recht einseitig informiert werden.
Welchen Rat möchten Sie denn den "Zufallsbürgern" geben: Was sollten sie unbedingt beachten?
Sie sollten den Fokus auf die Schüler legen. Die Bedürfnisse, die Lernbedingungen, die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen. Ich habe schon die Aussage gehört: "Die Pubertät gibt es nicht mehr" – weil in diesem engen Schulkorsett die Zeit für die persönliche Orientierung verloren geht. In der Diskussion geht es zu oft um die Verteilung finanzieller Mittel, um Auswirkungen auf das Schulsystem. Aber unsere Kinder sind doch nicht nur irgendwelche Schafe, die durch Gatter in irgendwelche Schularten gelenkt werden. Es muss vom Schüler gedacht werden, nicht vom Schulsystem her.
Falls Ihr Optimismus nicht belohnt wird und die Unterschriften nicht zusammen kommen: Hat das Engagement sich dennoch gelohnt?
Absolut. Ein erster Erfolg, bei dem wir schon die Sektkorken hätten knallen lassen können, war, dass die grün-schwarze Koalition sich überhaupt auf eine Diskussion über G9 eingelassen hat. Der Grünen-Bildungspolitiker Thomas Poreski hat ja bereits Ende letzten Jahres einen eigenen G9-Vorschlag vorgelegt, das "Abitur im eigenen Takt". Auch wenn das in dieser Form für uns nicht akzeptabel ist, zeigt sich doch, dass etwas in Bewegung gekommen ist.
Und auch das Bürgerforum kam ja.
Genau. Damit hat Winfried Kretschmann die Debatte, wenn auch vermutlich mit knirschenden Zähnen, zur Chefsache gemacht. Und das haben wir zwei Mütter geschafft. Zwei Mamas, die das G8-Gymnasium für ihre Kinder nicht gut fanden, haben das zu einem Thema gemacht, das jetzt den Ministerpräsidenten beschäftigt.
Die Debatte über G9
Seit dem Schuljahr 2003/2004 besuchen die baden-württembergischen Schülerinnen und Schüler im Normalfall nur noch acht Jahre lang das Gymnasium. Das "Turboabi" war ursprünglich von einer CDU/FDP-Landesregierung beschlossen worden, um die Schüler international "wettbewerbsfähiger" zu machen und früher in den Arbeitsmarkt zu bringen. Damals beschlossen viele Bundesländer, den Weg des kürzeren G8 zu gehen.
> Der aktuelle Stand: Bundesweit haben inzwischen einige Bundesländer die Rückkehr zu G9 beschlossen – darunter Bayern, Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen. Grund war massiver Gegenwind von Eltern, Schülern, aber auch Lehrerverbänden, die über zu viel Stress für die Kinder klagten – schließlich sollte die gleiche Stoffmenge in einer verkürzten Schulzeit vermittelt werden. Baden-Württemberg blieb grundsätzlich bei G8, richtete aber ab dem Schuljahr 2012/2013 in zwei Schritten insgesamt 44 "Modellschulen" ein, die wieder das Abitur nach 13 Schuljahren vorsehen.
> Der Volksantrag: Seit 2018 sind die Mütter Anja Plesch-Krubner und Corinna Fellner aktiv, um die Rückkehr zu G9 durchzusetzen. Seit November 2022 sammeln sie für einen Volksantrag Unterschriften, der G9 erzwingen soll. Notwendig sind dafür rund 39.000 Unterschriften, die bis zum 13. November in Stuttgart eingereicht werden müssen. Aktuell fehlen laut Angaben der Initiative noch 8999.
> Das Bürgerforum: Eigentlich hatte die grün-schwarze Landesregierung im Koalitionsvertrag geregelt, am Schulsystem nichts ändern zu wollen. Angesichts des öffentlichen Drucks hieß es dann jedoch im Juni überraschend, dass ein "Bürgerforum" das Thema beraten soll. 50 bis 60 "Zufallsbürger" sollen das Thema debattieren und dann eine Empfehlung abgeben. Erste Sitzung ist am Samstag, 30. September. Ein Ergebnis soll es bis Weihnachten geben. Die Empfehlung ist aber nicht bindend. sös
Zwischen zwei Welten
Über G8 und G9 wird seit langem gestritten. In Heidelberg diskutierten Politiker und Betroffene über Stress, Vorbereitung und Geld.
Von Michael Abschlag
Heidelberg. Es ist schon gegen Ende der Veranstaltung, als Berat Gürbutz den Frust vieler Schüler in Worte fasst: "Die Politik trifft Entscheidungen, und wir Schüler müssen es ausbaden." Um eine dieser Entscheidungen geht es an diesem Abend: um das achtjährige Gymnasium (G8) und die Frage, ob es rückgängig gemacht werden soll.
Anja Plesch-Krubner, Initiatorin des Elterninitative "G9 jetzt! BW", hat zur Diskussionsrunde ins Bürgerhaus in der Bahnstadt geladen. Die meisten Diskutanten sind erwartungsgemäß ebenfalls keine Fans von G8, so Gürbutz, der auf die Mehrbelastung hinweist: "Wir haben an der Schule unglaublich viel Druck, der Nachmittagsunterricht kommt zu dem Stress noch dazu", kritisiert er. "Hobbys sind da kaum noch unterzubringen. Und ja, manchmal will man nachmittags auch einfach mal nichts tun oder einen Freund treffen." Auch für soziales Engagement bleibe kaum Zeit. Er erzählt von seinem besten Freund, der im G8-System ist und deutlich weniger Zeit hat: "Das sind wie zwei Welten."
SPD-Landespolitiker Daniel Born springt ihm bei. "Welches Schulsystem haben wir denn, dass man sich für Freizeit entschuldigen muss?", fragt er. "Welches Bild haben wir von der Arbeitswelt?" Auch er sieht die Jugend als "Raum für Erfahrungen", als "wichtige Entwicklungsphase" – die sich auch außerhalb der Schule vollziehen müsse. Plesch-Krubner in ihrer Doppelrolle als Moderatorin und Diskussionsteilnehmerin geht noch weiter, spricht von einem Pensum, das anderswo "gegen die Arbeitsschutzgesetze verstoßen würde".
Das will Christdemokrat Andreas Sturm nicht so stehen lassen. "Wir dürfen auch kein Horrorszenario zeichnen", sagt er. Der Abgeordnete, der zuvor Lehrer in Viernheim war, ist ohnehin in einer schwierigen Situation an diesem Abend: Auch er hält offenbar nicht sehr viel von G8, fühlt sich aber genötigt, die Politik seiner Regierungskoalition zu verteidigen.
G8 gebe es "in allen neuen Bundesländern und in ganz Europa", führt er an, nirgendwo gebe es deshalb große Probleme. Letztlich gehe es auch nur um "fünfeinhalb Stunden am Tag", die Schüler im Schnitt in der Schule verbrächten, versucht er die Kritik zu entschärfen. Ansonsten verweist er auf den Koalitionsvertrag, den Kompromiss, "keine große Schulreform" zu machen.
So bleibt Nadyne Saint-Cast die unangenehme Aufgabe überlassen, G8 zu verteidigen. Zum einen, erklärt sie, gebe es bereits jetzt die Möglichkeit, in Baden-Württemberg ein klassisches G9-Abi zu machen, etwa an Berufs- und Gesamtschulen. "Ein Drittel aller Schüler machen ihr Abi bereits jetzt in neun Jahren", so Saint-Cast.
Berufs- wie Gesamtschulen würde man "austrocken", sie sei deshalb gegen die flächendeckende Rückkehr zu G9. Vor allem aber verweist sie auf die Schwierigkeiten und begibt sich auf das heikle Feld der Kosten. 115 Millionen Euro würde eine solche Rückkehr alleine an Personalkosten verursachen – "und dieses Geld würde in den Grundschulen fehlen".
Das wollen ihr die Vertreter der Oppositionsparteien nicht durchgehen lassen: Keinesfalls dürfe man Grundschulen und Gymnasien "gegeneinander ausspielen", kritisiert Born: "Gerade bei einer komplizierter werdenden Wirtschaft brauchen wir Investitionen in die Bildung". Dem schließt sich auch FDP-Politiker Timm Kern an: "115 Millionen sind drin", ruft er, jetzt sei der "richtige Zeitpunkt", die "Fehlentscheidung" zu korrigieren – eine Entscheidung, die seine Partei einst mit getroffen hatte.
Im Nachhinein sei das ein Fehler gewesen, räumt er ein: "Wir hatten die Hoffnung, dass Jugendliche früher auf den Arbeitsmarkt kommen und das Sozialsystem entlasten", erklärt er. "Das hat sich leider nicht erfüllt. Viele wissen nämlich mit 17 noch gar nicht, was sie machen wollen."
Zudem seien viele Schüler nach nur acht Jahren Gymnasium schlechter vorbereitet, ergänzt Kathrin Fetzner vom Philologenverband. "Die Zeit zum Üben fehlt", beklagt die Mathematik- und Physiklehrerin. "An den Universitäten finden schon Vorkurse statt, um die Abiturienten auf das eigentliche Studium vorzubereiten."
Gymnasiallehrer seien entsetzt gewesen, als der G8-Modellversuch "plötzlich auf alle Schulen ausgedehnt" worden sei. "Das Ergebnis ist, dass unsere Schüler nun ein Lernjahr weniger haben." Auch die Durchlässigkeit habe abgenommen.
Einig werden sich beide Seiten an diesem Abend, die Debatte dürfte noch weitergehen. Sollte Plesch-Krubner Erfolg haben, wird sie demnächst an anderer Stelle geführt: im Landtag.