Kniefall von Warschau

Als der deutsche Bundeskanzler um Vergebung bat

Am heutigen Montag jährt sich der Kniefall des damaligen Kanzlers Willy Brand in Warschau zum 50. Mal.

06.12.2020 UPDATE: 07.12.2020 06:00 Uhr 2 Minuten, 38 Sekunden
Willy Brandt kniet am Ghetto-Mahnmal. Foto: dpa

Von Ulrich Krökel, RNZ Warschau

Warschau. Eine nasse Dezemberkälte hängt über der Stadt. In der Nacht sind ein paar Schneeflocken gefallen und wieder getaut. Die Steine vor dem Mahnmal sind noch feucht. Ist es statthaft, hier niederzuknien? Um zu spüren, wie es sich damals angefühlt haben mag für Willy Brandt: auf kaltem, hartem Grund, in dem Schmutz, den Stiefel und Schuhe auf den Stufen hinterlassen haben. Sie führen hinauf zu einer elf Meter hohen Stele mit Bronzerelief. Die Skulpturengruppe zeigt die Helden des Warschauer Ghettos. Von dort deportierte die SS bis 1943 etwa 300.000 Menschen und ermordete sie, meist im Vernichtungslager Treblinka.

"Ich konnte nichts anderes tun, als dieses Zeichen zu setzen: Ich bitte für mein Volk um Vergebung." So hat es Brandt formuliert, im Nachhinein. Der Kanzler hat seinen welthistorischen "Kniefall von Warschau" am 7. Dezember 1970 selbst ausgedeutet. In seinen Memoiren schreibt er: "Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last Millionen Ermordeter tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt."

Brandt hatte schon in seiner ersten Regierungserklärung 1969 angekündigt: "Wir müssen zu einem neuen Miteinander von West und Ost kommen." Um seinen Worten Taten folgen zu lassen, reiste er im Dezember 1970 als erster Bundeskanzler nach Warschau. Im Gepäck hatte er ein Schriftstück, mit dem er die Feindschaft überwinden wollte. Gewaltverzicht, Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Anerkennung des Status quo waren die zentralen Prinzipien des Warschauer Vertrags, der faktisch auch die Oder-Neiße-Grenze festschrieb.

Für die kommunistische Führung Polens war das Abkommen deshalb von enormer Bedeutung. Doch Parteichef Wladyslaw Gomulka erhoffte sich mehr. Die im Vertrag als Ziel formulierte "umfassende Entwicklung der Beziehungen" sollte helfen, den Unmut im eigenen Land zu bekämpfen. Denn die freiheitsliebenden Polen wollten sich nicht mit sowjetkommunistischer Fremdherrschaft abfinden. Und genau deshalb wurde Brandts Kniefall für Gomulka zum größten anzunehmenden Unfall. Nur eine Woche nach dem Kanzlerbesuch brachen Massenunruhen aus. Gomulka ließ prügeln und schießen. Rund 90 Menschen starben. Der Parteichef musste gehen.

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Wegen Brandt? Zumindest erfüllte der Besuch nicht die Hoffnungen Gomulkas. "Er wollte den Vertrag in den Mittelpunkt rücken, nichts sonst", sagt Agnieszka Lada, Vizedirektorin des Deutschen Polen-Instituts. Aber dann war da diese Szene vor dem Mahnmal, hier in den Worten von Egon Bahr, des engsten Vertrauten des Kanzlers: "Ich hatte mich im Hintergrund gehalten und konnte nichts sehen. Doch auf einmal wurde es mucksmäuschenstill und jemand raunte: Er kniet, er kniet ..." Nur warum und für wen? Das waren die Fragen, die man sich in Polen stellte: War die Geste an die Juden gerichtet, ging es um ein Symbol für die Ostpolitik oder um ein umfassendes Bekenntnis zur deutschen Schuld?

Die Irritation im Politbüro war doppelt groß, weil der Kanzler kurz vor dem Kniefall am Ghetto-Mahnmal auch am Grabmal des Unbekannten Soldaten einen Kranz niedergelegt hatte, um die polnischen Freiheitskämpfer zu ehren. Die Staatsmedien griffen zu Zensur. In Polen wurden die Kniefallbilder erst nach 1989 vollständig publiziert – zu spät, um eine breite Wirkung entfalten zu können.

Es ist deshalb auch kein Wunder, dass der Kniefall in Polen bis heute nicht als die ultimative deutsche Geste an die eigene Adresse gewertet wird, die man sich im Land gewünscht hätte. Lada verweist auf die Ergebnisse des deutsch-polnischen Barometers, das jährlich die Stimmungslage zwischen den Nachbarn erfasst. Die Studie, bei der Lada die Federführung hat, zeigte es 2020 deutlich: Nur 29 Prozent der Polen finden, dass das historische Leid und die Opfer der eigenen Nation ausreichend gewürdigt werden.

Daran hat auch der Friedensnobelpreis nichts geändert, den Brandt für seine Ostpolitik 1971 bekam. Und ebenso wirkungslos blieb die bewegende Feier zum achtzigsten Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen 2019, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Warschau bekannte: "Ich stehe heute barfuß vor dem polnischen Volk, als Mensch, als Deutscher, beladen mit einer historischen Last." Kurz darauf forderte er: "Schaut auf den Heldenmut und die unbezwingbare Freiheitsliebe der polnischen Nation." Der Bundespräsident verwies dabei auf das Grabmal des Unbekannten Soldaten, vor dem Brandt gerade nicht niederkniet war.

Doch heißt das, dass Brandts Kniefall missglückt war? Nein. Es war die richtige Geste zur richtigen Zeit und am richtigen Ort: am Abgrund der deutschen Geschichte. Auf den nassgrauen Stufen des Ghetto-Mahnmals kann man den Sog dieses Abgrundes bis heute spüren. Auch ohne niederzuknien.