Quer- und Seiteneinsteiger im Schuldienst. Foto: dpa
Von Julia Giertz
Stuttgart. Unterrichtsausfall ist für Kultusminister ein Graus. Angesichts des leer gefegten Lehrerarbeitsmarktes greifen sie zunehmend auch auf Seiteneinsteiger zurück. Im Schuljahr 2016/17 erreichte ihre Zahl mit 3015 einen bundesweiten Höchstwert. Laut Kultusministerkonferenz (KMK) verdoppelte sie sich im Vergleich zum Vorjahr. Dies entsprach einem Anteil von 8,4 Prozent aller Einstellungen - Tendenz steigend.
Seiteneinsteiger sind laut KMK Menschen mit Hochschulabschluss, die keine Lehramtsprüfung und kein Referendariat absolviert, aber eine pädagogische Zusatzqualifikation erhalten haben.
Die Praxis ist in den Ländern sehr unterschiedlich. Vor allem Sachsen und Berlin setzen auf Seiteneinsteiger. In Sachsen war im laufenden Schuljahr mehr als jeder zweite eingestellte Lehrer gar kein richtiger Lehrer. Bayern, Hessen und das Saarland kamen 2016 hingegen ganz ohne solche Lehrkräfte aus.
Die Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marlis Tepe, bemängelt die schlechte Planung. "Angesichts der Pensionierungswelle war der Ersatzbedarf ja vorher erkennbar." Nicht erwartbar sei hingegen der Zustrom von Flüchtlingsfamilien 2015 gewesen, der die Einstellung von 16.000 Lehrkräften erfordert habe. Ihr Kollege vom Verband Bildung Erziehung (VBE), Udo Beckmann, stimmt ihr zu: "In Sachen Lehrerausbildung und Einstellung wird auf Kante genäht."
Die KMK-Statistik zu Seiteneinsteigern zeigt, wo die Not am größten ist: Bei den Naturwissenschaften wurden im letzten Schuljahr 561 eingestellt, bei den beruflichen Fächern 513. Auch in Deutsch, Mathe, Englisch und Sport füllen Seiteneinsteiger Lücken. Aktuell sind hauptsächlich Grund- und berufliche Schulen betroffen. "Es wird auf die anderen Schulen zukommen, wenn man nicht nachsteuert", prophezeit Tepe.
In Sachsen ist das schon Realität. Wegen geringer Bewerberzahl wurden zum August 52 Prozent der geplanten Stellen mit Seiteneinsteigern besetzt. Die Quote ist mit 66 Prozent nicht nur an Grundschulen hoch, sondern mit 61 Prozent auch an den Oberschulen, die den Haupt- und den Realschulabschluss anbieten.
Sachsens CDU fordert die Landesregierung auf, den Lehrerberuf attraktiver zu machen. Sie schlägt eine auf fünf Jahre befristete Möglichkeit der Verbeamtung von Lehrern vor, die in Vollzeit ihren Dienst in Sachsen antreten. "Der jahrelange demografische Rückgang in Ostdeutschland ließ die Länder die Ausbildungskapazitäten überproportional zurückfahren", so Tepe. Verbeamtung sei aber nicht immer die Lösung: "Brandenburg und Sachsen-Anhalt verbeamten seit Jahren und müssen trotzdem Seiteneinsteiger einstellen."
Der größte Vorteil von Seiteneinsteigern: Sie sind schnell einsetzbar und müssen keine sechs- bis siebenjährige Ausbildung durchlaufen. Es fehlen aber die pädagogische Erfahrung und das Vermögen, Fachwissen so aufzubereiten, dass Schüler es verstehen. Da müssen auch die Kollegen unterstützen. Tepe kennt eine sächsische Grundschule, bei der von 19 Kollegen fünf Seiteneinsteiger sind. "Das ist für das Kollegium eine hohe Belastung."
Auch Eltern sind skeptisch. "Es reicht nicht aus, wenn man gut im Fach ist - wir wollen nicht, dass Leute ohne pädagogische Ausbildung unsere Kinder unterrichten", sagt der Chef des Elternbeirates Baden-Württemberg, Carsten Rees.
Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) sieht hingegen viele Vorteile. "Von deren Kenntnissen können die Schüler unmittelbar profitieren, weil sie den Hintergrund einer Berufsausbildung, eines Ingenieurstudiums und der praktischen Erfahrung mitbringen", so Eisenmann. 126 von 150 Seiteneinsteigern hat das Land im Schuljahr 2016/17 für berufliche Fächer rekrutiert.
Aus GEW-Sicht muss vor allem der Beruf attraktiver werden. Tepe sagt: "Gerade an den Grundschulen brauchen die Kollegen höhere Bezahlung, mehr Wertschätzung und bessere Arbeitsbedingungen."