Von Gunnar Fehlau
Göttingen. Drei Jahrzehnte liegt das Ende der deutsch-deutschen Teilung dieses Jahr zurück - trotz dieser Zeitspanne lässt sich die einstige Grenze heute noch buchstäblich erfahren: als Abenteuertrip entlang der DDR-Grenzerpfade. Seit genau zehn Jahren gibt es 2019 die Radler-Extremtour "Grenzsteintrophy". Unabhängig von diesem Sport-Ereignis kann man der Strecke gerade auch mit jungen Leuten nachspüren. Wir haben das getan.
An unsere Grenzen geraten wir, lange bevor wir überhaupt in der Nähe der ehemaligen innerdeutschen Grenze sind. Bereits kurz nach dem Start am Göttinger Bahnhof stoppen wir auf einer Wiese im Naherholungsgebiet "Kiessee". Mit dem Initiator dieser Fahrt, dem ehemaligen Kasseler Jugendbildungsreferenten Bijan Otmischi, habe ich einige Gemeinschaftsaufgaben und -spiele zu den Begriffen Grenze/Freiheit erarbeitet.
Im bodennahen Nebel auf einer Feldwegkreuzung stehend sind insgesamt 15 Teilnehmer nun angehalten, sich in Zweiergruppen gegenseitig zu erklären, was für sie Freiheit bedeutet und welche Grenzen ihr eigenes Leben heute bestimmen.
Die Paare bestehen stets aus einem Jugendlichen und einem Erwachsenen. Denn das ist die Idee dieser Fahrt: Unter dem Motto "Strampeln auf dem Grenzweg durch deutsche Geschichte" waren Elternteile mit ihren jugendlichen Kindern zu einer zweitägigen Mountainbike-Tour von Göttingen nach Bad Sooden-Allendorf entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze eingeladen. Organisiert hat diese Fahrt das Jugendbildungswerk des Landkreises Kassel. Ich habe die eigentliche Strecke ausgearbeitet und leite die Tour.
Paul, 17, berichtet jetzt von den Grenzen beim Parkour, die er immer wieder überspringen möchte. Stefanie, 16, kennt die Ausgrenzung, wenn das Taschengeld mal für einen Kinobesuch mit der Clique nicht reicht. Hans, ein Mittvierziger und aktiver Mountainbiker, schwärmt von der Freiheit, mit dem Rad überall hinfahren zu dürfen. Christian, 17, erzählt dagegen von der Unfreiheit, den Lehrer nicht kritisieren zu können, weil "der ja später die Noten macht!"
Die Stimmung in der Gruppe schwankt zwischen Dankbarkeit für die Freiheit der Gegenwart und dem Entsetzen über deren Begrenztheit. Zeit für Ablenkung: Wir erklimmen den ersten Anstieg des Tages hinauf zur Diemardener Warte, dem letzten komplett erhaltenen Wartturm des mittelalterlichen Frühwarnsystems für Göttingen, während von den Feldern gegenüber der Nebel weicht und plötzlich Windräder, Riesen aus der Neuzeit, auftauchen.
Von Reinhausen aus geht es stetig und leicht bergauf nach Lichtenhagen und weiter bis auf den Heidkopf. Auf seinem Rücken treffen wir erstmals auf den ehemaligen Kolonnenweg der DDR-Grenzer und damit auf den exakten Verlauf der einstigen deutsch-deutschen Grenze. "Rollercoaster Hills" heißen die welligen Bergstrecken, die sich beim Bergabfahren mit etwas Mumm und Geschick durchaus kraftsparend fahren lassen.
Ein solches Filetstück der zweitägigen Tour haben wir nun vor uns. Und wieder tun sich Grenzen auf. Manches Rad ist für das Schlagloch-Stakkato der Lochplatten nicht so recht geeignet. Bisweilen ist es aber auch der Fahrer, der das Tempo bergab begrenzen und so anschließend anstrengend kurbeln oder gar schieben muss. Die Achterbahnpassage endet, als der Kolonnenweg den Pilgerweg "Loccum-Volkenroda" kreuzt. Wir brettern die Schotterpiste zum Rittergut Besenhausen herunter, nur um vor den verschlossenen Türen des Hof-Cafés zu stehen.
Jetzt ist die Stimmung am Boden. Väter, voller Vorfreude auf einen frischen Kaffee, hängen in den Seilen und sind außerstande, die Enttäuschung des Nachwuchses aufzufangen. Doch Bijan zückt Vorräte aus dem Begleitwagen: "Ahle Wurscht", Kekse und Äpfel stillen Hunger und Gemüter. Wohlgestärkt geht es zum finalen Berg Richtung Bornhagen. Dort, im Strohhotel des Klausenhofs, fallen 15 Biker nach einem üppigen Mahl satt und müde in den Schlaf.
Bornhagen hat mittlerweile deutsch-landweit Bekanntheit erlangt durch ein Mahnmal, das die Berliner Künstlerinitiative "Zentrum für politische Schönheit" direkt neben dem Grundstück des dort wohnenden Politikers Björn Höcke errichtet hat. Auch dieser Tourpunkt lässt sich so angesichts des Politikerzitats und seiner Folgen für einen anschaulichen Zeitgeschichte-Unterricht der Jüngeren nutzen.
Am nächsten Morgen führt uns der Grenzkolonnenweg zum Werrablick. Über einen erstklassigen Singletrack geht es zum zweiten Frühstück an der Teufelskanzel. Das dort gelegene urige Wirtshaus ist ein beliebtes Ausflugsziel. Wie ein Hexenhäuschen liegt es mitten im Wald. Es ist mittlerweile Mittag, als wir erneut von der Landstraße auf den Plattenweg abbiegen. Geradeaus führt er den Hügel hinauf und wird immer steiler.
Deutsche Grenzen-Gründlichkeit kennt keine Serpentinen. Einziges Zugeständnis an die Topografie: Die Lochplatten liegen in besonders steilen Passagen quer, sodass die Löcher als Leitersprossen dienen. Oben angekommen fahren wir ins Grenzmuseum Schifflersgrund, der ersten Gedenkstätte ihrer Art im wieder vereinten Deutschland. Perfider lässt sich die Architektur des Todes nicht erfahren. Binnen eines Kilometers wandelt sich das wilde naturbelassene Grüne Band zur "restaurierten" Gedenkstätte in Form eines konservierten "Antifaschistischen Schutzwalls".
Wir fahren völlig vogelfrei durch schönste Natur. Nur der eigene Puls gibt den Takt vor. Kein Gestern, kein Morgen, keine Verpflichtungen, keine Grenzen - nur eine endlose Aneinanderreihung von "jetzt und hier".
Dennoch ist der Boden unserer Route blutig. Die Grenze hat nicht allein Spuren in der Natur hinterlassen, sondern auch in Millionen Köpfen. Dieser Kontrast geht aufs Gemüt. Spontan tauschen wir uns vor dem Museum aus und entscheiden, auf einen Besuch zu verzichten. Wie soll uns ein Museum begreiflicher machen, was unbegreiflich ist? Wir "erfahren" lieber buchstäblich, was sich als nicht vermittelbar erweist.
Rauf auf die Räder! Wieder Kolonnenweg. Einen knappen Kilometer auf dem Bergrücken geht es ostwärts zum Hof Sickenberg. Seine Grenzgeschichte ist so einmalig wie der Kuchen, den Kristina Bauer im Angebot hat. Sie ist die treibende Kraft hinter dem Projekt. Beides ein guter Abschluss einer zweitägigen Grenzerfahrung für Klein und Groß, bei der nicht nur die über 2 000 Höhenmeter auf kaum 65 Kilometern Strecke eine Herausforderung waren.