Gelungener Abschluss des ¡Adelante!-Festivals in Heidelberg
Mit "Geist" aus Chile und "Boker im gelobten Land des Leids" aus Mexiko ging das dritte ¡Adelante!-Festival zu Ende.

Von Volker Oesterreich
Heidelberg. Brachiale Gewalt, die Exzesse radikaler Regime, aber auch Armut, soziale Verwerfungen und die Unterdrückung indigener Bevölkerungsgruppen bestimmen den Lebensalltag in vielen südamerikanischen Gesellschaften. Wie kann man dieser Düsternis entkommen? Die Kunst, speziell die des Theaters, sucht nach Erleuchtung – und sei es auch nur auf utopischen Pfaden oder mit den Mitteln des archaisch anmutenden Mummenschanzes. So geschehen beim Finale des achttägigen ¡Adelante!-Festivels, bei dessen dritter Auflage zwölf Produktionen iberoamerikanischer Bühnen in Heidelberg gezeigt wurden.
Die kleine Studio-Produktion "Geist" des chilenischen Teatro Anónimo und das aufwändige Spektakel "Boker im gelobten Land des Leids" der mexikanischen Performance-Gruppe La Canavaty sorgten am letzten Festival-Tag im Zwinger 1 und im Marguerre-Saal für fast komplett besetzte Zuschauerreihen. Wieder einmal. Das Theater vermeldet eine Gesamtauslastung von 98 Prozent, auch die zahlreichen Begleitveranstaltungen von der Party über die Publikumsgespräche bis zu den Podiumsdiskussionen wurden sehr gut besucht.
Dieses Ergebnis kann als Ansporn verstanden werden, auch ein viertes ¡Adelante!-Festival zu veranstalten. Vielleicht klappt das ja 2026 kurz vor dem Abschied Holger Schultzes von der Heidelberger Intendanz. Vorwärts möchte man seinem gesamten Team im Sinne des spanischen Appells ¡Adelante! zurufen, macht’s noch einmal!
Zum Festivalalltag gehört freilich auch die Krisenbewältigung: Das Gastspiel von Trinidad González’ Stück "Geist" hätte beinahe abgesagt werden müssen, weil zwei der drei Darsteller aus dringenden familiären Gründen nach Chile zurückreisen mussten. Für die Aufführung im Zwinger 1 sprangen die Ausstatterin Nicole Needham und der Produzent Horacio Pérez in die Bresche, um gemeinsam mit dem in Heidelberg gebliebenen Schauspieler Matteo Citarella eine szenische Lesung der märchenhaft-utopischen Geisterbeschwörung zu präsentieren. In knapp 70 Minuten geht es darum, das von drei Blutstropfen symbolisierte Böse dieser Welt in einer Flasche zu verschließen. Stöpsel drauf und weg damit. Tja, wenn das so einfach wäre. Aber man darf ja träumen. Musikalisch grundiert werden diese Träume von suggestiven Gesängen und Klängen, die wie Fragmente eines neuzeitlichen Oratoriums anmuten. Der karg ausgestattete Raum wird so zur Kultstätte, aber in der Realität draußen treiben die Plagegeister weiterhin ihr Unwesen. Wäre ja auch zu einfach, wenn man Putin in einer geleerten Colabuddel entsorgen könnte.
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Anderer Staat, andere Probleme: Das mexikanische ¡Adelante!-Gastspiel "Boker im gelobten Land des Leids" des Autors und Regisseurs Victor Hernández kreist um die Mordexzesse konkurrierender Drogenkartelle. Der Gewaltrausch vollzieht sich wie in einer schwarzen Messe, zu der Vergewaltigungen, morbider Mummenschanz und abgründige Prozessionen gehören. Manchmal glaubt man, in eine der späten Inszenierungen Christoph Schlingensiefs geraten zu sein. Die Plausibilität spielt nur eine untergeordnete Rolle, Mystifikation heißt bei der sechsköpfigen Truppe das Gebot der Stunde. Auch dies eine Art von Geisterbeschwörung. Beim Publikum kommt sie gut an, beim Kritiker nicht.