Packendes Drama "Sisterhood (HLM Pussy)" beschließt Festival
Mädchen, heutzutage: Nora El Hourchs Film läuft zum Abschluss.

Von Daniel Schottmüller
Heidelberg. "Man kann’s ihnen einfach nicht recht machen. Versucht man’s auf die nette Tour, lassen sie einen abblitzen und wenn man sie direkt anspricht, labern sie sofort irgendeinen Dreck von wegen #MeToo! Mädchen, heutzutage ..." Es herrscht Chaos im Schnellimbiss, wo die beiden jungen Männer sich zunehmend in Rage pöbeln. Immer lauter, immer wütender, bedrängen sie die drei Mädchen am Nachbartisch mit immer widerwärtigeren Beschimpfungen.
Aber Amina, Djeneba und Zineb setzen sich zur Wehr. Mit vereinten Kräften entkommt das Trio seinen Aggressoren. Ja, die Teenagerinnen schaffen es sogar, die beiden Typen bloßzustellen, indem sie genau im richtigen Moment das Smartphone zücken. Diese Eröffnungsszene endet mir erhabenen Streicherklängen und drei Freundinnen, die federnden Schritts davonspringen, jede ein Strahlen im Gesicht. Inspirierendes Empowerment? Absolut.
Aber wer erwartet, dass es so weitergeht, sieht sich getäuscht. Nora El Hourchs Langfilmdebüt "Sisterhood (HLM Pussy)" gestaltet am Sonntag den Abschluss des 72. Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg, weil die Regisseurin darin mehr anzubieten hat als simple Gut-Böse-Klischees. In den folgenden eineinhalb Stunden unterzieht sie die Freundschaft ihrer scheinbar unzertrennlichen Heldinnen einer Prüfung.
Wie Nora El Hourch selbst sind auch Amina, Djeneba und Zineb Französinnen mit migrantischen Wurzeln. Und doch wachsen sie sehr unterschiedlich auf. Die in entgegengesetzte Richtungen abfahrenden Schulbusse bilden dafür eine einprägsame Metapher. Während die lautstarke Hobby-Influencerin Djeneba (Médina Diarra) und die schüchterne Zineb (Salma Takaline) in prekären Verhältnissen leben, wird Amina (Léah Aubert) von ihren Eltern – eine Anwältin und ein Chirurg – dazu angehalten, sich von ihren Vorstadts-Freundinnen zu lösen. Der soziale Graben spiegelt sich nicht nur im unterschiedlichen Vokabular, sondern insbesondere in den Reaktionen auf den nächsten Belästigungsvorfall, mit dem die Mädchen konfrontiert sind.
Auch interessant
Dieses Mal sind sie nicht im Team unterwegs und der Täter ist kein Fremder. Ausgerechnet Zak (Oscar Al Hafiane), der beste Freund von Zinebs Bruder, nähert sich ihr ungewollt an. Als das Mädchen sich daraufhin seinen Freundinnen anvertraut, reagiert Amina ganz im Geiste der Femininismusbotschaften, von denen sie sich so gerne auf Instagram inspirieren lässt. Sie sendet ein Video in die Welt, das dazu gedacht ist, Zak zu entlarven – und löst damit eine ganze Welle unvorhergesehener Reaktionen aus. Schließlich muss sich Amina sogar die Frage stellen, wie übergriffig sie selbst sich gerade gegenüber Zineb und ihrem Umfeld verhält.
El Hourch erzählt diese zeitgemäße Story in flottem Tempo. Unterhaltsam, ja bisweilen sogar humorvoll streift sie die Problemfelder Sexismus, Rassismus und Klassismus, ohne die Moralkeule zu schwingen. Dabei fängt die Filmemacherin gerade die überfordernden Dynamiken von Social Media eindringlich ein. Etwa, wenn inmitten des einbrechenden Shitstorms Aminas auf Vibrationsalarm geschaltetes Smartphone durch den Raum zuckt wie ein eigenständiges Wesen.
Ein Lob gilt nach elf Festivaltagen aber auch dem Team um Sascha Keilholz: Nicht nur mit diesem mitreißenden Abschlussfilm haben die Veranstalter gezeigt, dass alle davon profitieren, wenn man sich ernsthaft bemüht, ein diverses Programm auf die Beine zu stellen.