"Wir leben trotzdem!"
Esther Bejarano in der Providenzkirche am Vorabend der Verleihung des Hermann-Maas-Preises

Von Christoph Wagner
Heidelberg. Es war einer jener Abende, die man sicher nie vergessen wird. Der Auftritt der 95-jährigen Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano zusammen mit der Band Microphone-Mafia in der Providenzkirche Heidelberg, am Vorabend der Verleihung des Hermann Maas-Preises, wurde zu einer tief bewegenden Demonstration absoluter Menschlichkeit: Wir leben trotzdem! Trotz des unermesslichen Leids, das Menschen Menschen angetan haben, antun und immer wieder antun werden, ist das Leben lebenswert.
Erzählen wir der Reihe nach. An den Kirchenwänden schufen Masken, die Schüler der Gregor-Mendel-Realschule Heidelberg-Kirchheim im Rahmen des Projekts "Schule gegen Rassismus – Schule für Courage" erstellt hatten, für einen würdigen Rahmen. (Die Ausstellung ist noch bis zum 30.November zu sehen). In einer Art Vorprogramm präsentierte die Band der Gemeinschaftsschule Wiesloch, die jetzt Esther-Bejarano-Schule heißt – in der Besetzung: zwei Sängerinnen, Gitarre, Klavier und Schlagzeug – drei Songs (u. a. "I have a dream" in Anlehnung an Martin Luther King), vielleicht ein wenig zu brav, dafür aber klangschöner als sonst in diesem Genre üblich.
Dann las Esther Bejarano fast eine Stunde lang mit der Nüchternheit eines Nachrichtensprechers aus ihren "Erinnerungen". Von dem unerträglichen Gestank in den Viehwaggons bei dem Transport nach Auschwitz, vom Lagerarzt Mengele, der durch eine kleine Handbewegung entschied, wer direkt ins Gas musste und wer Schwerstarbeit verrichten durfte, von dem unfassbaren Glück, dass sie das Probespiel für das Mädchenorchester von Auschwitz auf dem Akkordeon bestand, obwohl sie als Pianistin ein solches Instrument vorher noch nie in der Hand hatte, und allein dadurch überlebte, vom Todesmarsch am Kriegsende, als SS-Schergen gnadenlos erschossen, wer nicht mehr weiter konnte. Und dann auch von ihrer zweiten Geburt, als sie für amerikanische und russische Soldaten zum Tanz um ein brennendes Hitler-Bild aufspielte.
Aber erst im anschließenden Konzert mit der Microphone-Mafia wurde die ganze Persönlichkeit Esther Bejaranos offenbar. Sie hat begriffen, dass es vor allem im Umgang mit jungen Menschen nicht ausreicht, von dem Gräuel der Vergangenheit zu berichten, dass sie sich bei all ihrem Bemühen darüber hinaus auf deren heutige Erfahrungen beziehen muss.
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Das geschieht, wenn sich Rap mit jiddischer Volksmusik und anderen Stilarten mischt und wenn die Rede ist von den brennenden Menschen in Rostock-Lichtenhagen, den Morden von Mölln und Solingen, von den tausenden ertrinkenden Flüchtenden im Mittelmeer, von der Unfähigkeit von Israelis und Palästinensern, in Frieden zusammenzuleben ("Schiru la schalom", Hymne der israelischen "Frieden-jetzt-Bewegung"), von den Morden des NSU, von der fehlenden Bereitschaft, nach dem Brand von Moria den leidenden Menschen effektiv zu helfen.
Es wurde zum Bild des Abends, als die Musiker der Microphone-Mafia ein Transparent mit der Zeile "Nie wieder Krieg" über der zwei Köpfe kleineren Esther Bejarano entrollten. Im Charisma dieser rüstigen 95-Jährigen wird der Kampf gegen das Vergessen zum Aufruf für uneingeschränkte Menschlichkeit im Hier und Jetzt: Überwinde den Urgrund allen menschengemachten Leids in dir: "Menschen leiden – und du bist still!"