Alli Neumann

"Ich habe mich als Alien gefühlt"

Mit "Roquestar" bringt Alli Neumann ein Album raus, das zu ihrem facettenreichen Lebenslauf passt.

11.09.2025 UPDATE: 11.09.2025 04:00 Uhr 3 Minuten, 39 Sekunden
Foto: Fioni Versace​

Von Steffen Rüth

Aufregendere Künstlerinnen als Alina-Bianca "Alli" Neumann gibt es wenige in diesem Land. Die 30-Jährige singt forsch-freche Lieder, landete bereits Hits wie die Trettmann-Kollaboration "Zeit steht", spielt Fagott und bringt jetzt ihr drittes Album "Roquestar" raus. Auch als Schauspielerin, etwa in der Netflix-Serie "Kleo", hat die Frau mit der markanten Stimme Erfolg. Steffen Rüth sprach mit ihr über Zweifel, David Bowie und das Heranwachsen auf dem Friedhof.

Alli, es macht wirklich Spaß, dein neues Album zu hören. Aber warum nennst du denn gleich das erste Stück "Ich kann gar nichts"?

Alli Neumann: Das Hochstaplersyndrom ist etwas, das mir stark zu schaffen macht. Ich bin glücklich und dankbar, dass ich mich in ganz vielen Bereichen ausprobieren darf, in denen ich überall keinen akademischen Ausbildungsgrad habe, und ich finde es toll, von so vielen spannenden Menschen zu lernen. Aber das Hauptgefühl, das mich bei all dem umgibt, ist der Zweifel.

Ist Zweifel ein gutes Gefühl?

Für mich schon. Ich finde es überhaupt nicht schlimm, vieles nicht zu wissen und zu können. Denn zu viel Selbstvertrauen führt zu Selbstüberschätzung, und dann wird es gefährlich. Zweifel hingegen lässt Platz für das Entstehen von Fragen. Du bleibst offen, wenn du zweifelst. In dem Moment, wo du meinst, alles zu wissen, blockst du andere Informationen ab. Und das macht engstirnig und unsympathisch.

Du hast schon im Vorprogramm von Coldplay gespielt. Was hast du von Chris Martin und Kollegen gelernt?

Das ganze Team ist unfassbar akribisch. Die machen jeden Morgen ihren Sport und widmen sich Tag für Tag ihrem Soundcheck, auch wenn sie am Abend vorher bereits im selben Stadion gespielt haben. Wenn man sehr diszipliniert und strukturiert ist, dann läuft im Grunde das ganze Programm von alleine ab, und du hast auf der Bühne Freiraum für Spaß und Spontaneität. Das fand ich spannend zu erfahren.

Dein eigener Stil ist nicht leicht einzuordnen. Deine Popsongs können sehr melodisch sein wie "Vom anderen Stern", hymnisch wie "Versailles", verspielt wie "Seltsame Welt", aber auch schroff wie "Schattenboxer".

Ich schätze mich glücklich, mich in einer solchen Bandbreite ausleben zu können. Speziell zu Anfang war ich eine ziemliche Zumutung für die Menschen und ihre Hörgewohnten. Und dann spiele ich auch noch Fagott ... Gottseidank habe ich ein Publikum gefunden, das mir vertraut und sich immer wieder auf Neues einlässt. So kommt es, dass ich auch mal ein jiddisches Lied singe oder was Dänisches oder plötzlich polnischen Kehlkopfgesang mache.

Warum hast du dein Album eigentlich "Roquestar" genannt?

Weil es ein schönes Wort ist. Und weil die Figur des Rockstars ein Sinnbild für Ambivalenz darstellt. Rockstars wollen geliebt werden, haben aber Angst vor Vereinnahmung. Sie wollen ein selbstbestimmtes, freies, wildes Leben führen – und doch merken sie meist sehr schnell, dass sie sich in minutiös getakteten Sieben-Tage-Wochen wiederfinden. Die Realität dieses Berufs hat mit der Wirklichkeit definitiv nicht viel zu tun. Und trotzdem liebe ich ihn. Ich mag immer noch den romantischen Gedanken, dass Rockstars – ich denke zum Beispiel an David Bowie und seine Figur Ziggy Stardust – wie Aliens sind, die auf die Erde fallen, um hier Anerkennung und Liebe zu finden.

Fühlst du dich selbst manchmal wie eine Außerirdische in dieser Gesellschaft?

Als Kind war das extrem der Fall. Ich habe die ersten sechs Jahre im ländlichen Polen, nicht weit von der Grenze zur Ukraine, gelebt. Dann bin ich mit meinen Eltern in den Norden Schleswig-Holsteins gezogen. Mein Vater ist 30 Jahre älter als meine Mutter, ein Künstler mit langen Haaren. Unser Haus lag auf einem alten Friedhofsgelände, Deutsch konnte ich anfangs auch kaum – also da habe ich mich schon als Alien gefühlt.

Wie lebt es sich auf einem Friedhof?

Einsam, aber charakterstärkend (lacht). Die anderen Kinder wollten nicht zu mir nach Hause kommen, weil sie das gruselig fanden und meinen Vater für einen Verrückten hielten. Nur zu Halloween, da gab es die besten Partys bei uns. Auch meine polnische Identität war ein großes Schamthema. Ich habe das in der Schule verheimlicht, bis ich 18 war. Heute spreche ich gern über meine Herkunft. Was ich als Schwäche wahrgenommen habe, ist nun etwas, für das ich gemocht und gesehen werde. Kürzlich habe ich zum ersten Mal ein Konzert auf Polnisch gespielt, im Publikum waren größtenteils deutsch-polnische Frauen. Ich fragte, wer als Reinigung- oder als Pflegekraft arbeitet, und fast alle Arme gingen nach oben. Dann wollte ich wissen, wer vorher schon einmal in einem Theater war, und fast niemand meldete sich. Alle gemeinsam hatten wir an diesem Abend das Gefühl, in der deutschen Gesellschaft angekommen zu sein.

Gab es einen Grund, warum deine Eltern auf dem Friedhof wohnten?

Mein Vater ist immer ein Mensch gewesen, der Kuriositäten liebt. Er ist ein Architekt, Künstler, Freigeist. Ich wollte als Kind Markenschuhe haben und im Reihenhaus leben. Stattdessen spielte ich Fagott, ein völlig uncooles Instrument.

Hat sich der Traum vom Reihenhaus inzwischen verwirklicht?

Er könnte kaum weiter weg sein. Ich lebe wieder auf dem Friedhof bei meinen Eltern. Und wenn ich in Berlin bin, wohne ich in einer Hütte im Schrebergarten. Das ist jetzt nicht unbedingt eine Situation mit klassischem Warmwasseranschluss. Aber im Moment passt alles. Ich störe auch niemanden in der Nachbarschaft, wenn ich Fagott übe.

Eine spannende Wohnsituation. Vor allem, weil du ja seit 2018 sowohl als Musikerin als auch als Schauspielerin sehr erfolgreich bist. Hat beides für dich dasselbe Gewicht?

Ich sehe mich in erster Linie als Geschichtenerzählerin. In der Musik habe ich mehr eigene Werkzeuge, mit deren Hilfe ich mich ausleben kann. Im Film- und Serienbereich bin ich stärker auf andere angewiesen.

Und würdest du dich selbst als "Roquestar" bezeichnen?

Ich will den Begriff lieber umdrehen und sagen, dass wir alle Rockstars sind. 


Info: "Roquestar" erscheint am Freitag. Am 1. Dezember spielt Alli Neumann ein Konzert im Zoom, Frankfurt.