Das wilde Herz des Dschungels pocht: Raubkatze Olivia Öl, hier dargestellt von Tala Al-Deen, auf Beutezug im Reich der Sinne. Foto: Hans Jörg Michel
Von Heribert Vogt
Mannheim. Eine Frau wird zur Tigerin, bekommt Fell und Streifen, reißt lustvoll den Rachen auf und folgt ungehemmt der Gier ihrer Triebe - nachdem sie jahrzehntelang zwischen Unsicherheiten und Selbstzweifeln hin- und hergerissen war. Es gibt ja gegenwärtig das frappierende Phänomen, dass einerseits Pornografie in der Gesellschaft weit verbreitet ist, andererseits Sexualität - noch oder wieder - als eines der letzten umstrittenen Tabus erscheint.
Und die derzeit heftig emotionsgeladenen Sexualitäts- und Gender-Themen scheinen das Theater gerade in jüngster Zeit wieder stärker herauszufordern, so auch die israelische Dramatikerin Sivan Ben Yishai (Jahrgang 1978), die aktuelle Hausautorin am Nationaltheater Mannheim. Jedenfalls führt ihr Stück "Liebe / Eine argumentative Übung", mit dessen Uraufführung das Nationaltheater in die neue Spielzeit startete, mitten hinein in das Reich der Sinne, das für die Protagonistin des Stücks die Erfüllung, für unsere Gesellschaft aber oft eine verminte Kampfzone darstellt.
Und da die Inszenierung von Jakob Weiss im Werkhaus einen Theaterabend der Deutlichkeiten bietet, sei der Dschungel der Sexualität hier in Bilder des wirklichen Urwalds "übersetzt". Und darin tobt sich die Tiger-Frau schließlich so richtig aus, brüllt ihre Wünsche heraus, scheut keinen Nahkampf mit männlichen Artgenossen und beherrscht ihr Revier der wuchernden Begierden als dominante Jungle-Queen.
Allerdings ist das nur eine Seite des Dramas, das im pulsierend-glühenden Herz-Ambiente (Bühne: Jakob Weiss) tief eintaucht in moderne Hetero-Beziehungen. Dabei kommt die Story jedoch zunächst leicht, locker und lustig daher, nämlich in den Gestalten der populären Comicfiguren Popeye - der Seemann und seiner Geliebten Olivia Öl. Da ist am Anfang alles Friede, Freude, Eierkuchen: Der 32-jährige Popeye mit breiter Brust und fast noch breiteren Unterarmen ist ein warmherziger, allseits beliebter, ja sogar "feministischer" Softie, der seiner Olivia augenscheinlich eine sehr harmonische Zweierbeziehung bietet. Aber auf Dauer trügt dieser Schein.
Denn in der Verbindung der beiden treffen Welten aufeinander. Menschen sind eben komplexe Wesen und keine stereotypen Comicfiguren. Deshalb wird die 40-jährige Olivia, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, auch gleich von fünf Darstellern - vier Frauen und einem Mann - auf der Bühne verkörpert (Tala Al-Deen, Almut Henkel, Ragna Pitoll, Sarah Zastrau und Rocco Brück). Sie alle tragen das Comic-Outfit Olivias (Kostüme: Elena Gauss) und bieten während der ganzen Aufführung durch chorisches wie alternierendes Sprechen den vielfältigen Stimmen einen Resonanzraum, sowohl im Innern Olivias als auch in der Beziehung zu Popeye.
Und diese Sprachführung der Schauspieler erfolgt so punktgenau wie virtuos. Sie katapultiert die Comicfiguren fesselnd ins Heute und lässt wahre Sinnenglut durch den modernen Lebensdschungel strömen.
Aber selbst wenn man am Ende "Gut gebrüllt, Tigerin!" sagen kann, so bleiben über den kompletten Abend (105 Minuten) doch viele Untiefen zwischen den Geschlechtern. So ruht der selbstzufriedene Popeye noch in den intimsten Sphären ganz in sich selbst und ist mit der äußeren Welt völlig im Reinen. Jedoch kann er mit seiner Eindimensionalität weder als verhinderter Filmregisseur noch letztlich bei Olivia punkten.
Diese ist schon mit ihrer "knochigen" Erscheinung, aber auch im Gefühls- und Sexualleben von beiden die Zerrissenere, bei der eigentlich nie irgendetwas klar zu sein scheint. Zugleich ist sie jedoch die Intelligentere, die nicht nur als Schriftstellerin erfolgreich ist, sondern auch auf der Suche nach ihrer Zukunft bleibt. Und da kann in Träumen das wilde Herz des Dschungels pochen.
Alles in allem eine überaus gelungene Uraufführung des von Maren Kames aus dem Englischen übersetzten Stücks. Keineswegs eine blutleere "argumentative Übung", wie der Untertitel verheißt. Vielmehr ein echter Wort- und Sinnenrausch. Eine innovative, kunstvolle und rasante Sprache, die Tabus offensiv angeht. Super Schauspieler. Facettenreichtum der Perspektiven. Tolles Timing. Pointen in Serie. - Begeisterter Applaus.
Info: Weitere Aufführungen am 5., 18., 20. Oktober.