Von Jörg Tröger
Heidelberg. Nur eine blassgraue Eintrittskarte vom 5. November 1948 ist erhalten, dazu ein Zettel mit dem Programm des ersten Musica-viva-Studiokonzerts im Rathaussaal, zwei Kompositionen von Paul Hindemith. Den Heidelberger werden bislang unerhörte Klänge präsentiert: ein Bläserquartett und ein Streichquartett kombiniert mit Klavier, dazu Akkordeon, eine Sirene, eine mit Sand gefüllte Blechbüchse sowie andere nicht ganz salonfähige Instrumente.
In den zwölf Jahren nationalsozialistischer Rassen- und Kulturpolitik war dergleichen als "entartete Musik" verboten gewesen, jetzt in der jungen Demokratie merkt man, wie vieles man auf allen Feldern der Kultur versäumt hat. Man ist begierig nach dem Neuen. In Heidelberg ist es der Komponist und Musikpädagoge Wolfgang Fortner, der 1948 Musica-viva-Konzerte auf den Weg bringt, zusammen mit GMD Ewald Lindemann und dem Städtischen Orchester.
Zum nächsten Konzert mit zwei Uraufführungen von Fortner selbst und seinem Schüler Hans-Werner Henze schickt der "Spiegel" einen Korrespondenten aus Hamburg. Fortner, so der Mann des neuen Wochenmagazins, "ist dauernd drauf und dran, temperamentvoll zu explodieren, kaum jemals anders als mit offenem Hemdkragen und meist barhäuptig".
Anfang 1950, als Lindemann dirigiert, "konferiert" Fortner - er erläutert. Das erste gedruckte Programm erscheint. Ort der Veranstaltung ist nun der Saal der Sendestelle des Süddeutschen Rundfunks in der Marstallstraße 6. Der SDR war 1946 in das ehemalige Hotel Prinz Max eingezogen und nutzte dessen Gesellschaftssaal für öffentliche Veranstaltungen. Im Januar 1952 wird das SDR-Studio Heidelberg offizieller Partner der Musica-viva-Konzerte und stellt Saal, Honorare sowie - besonders willkommen - Sendezeiten zur Verfügung.
Die Feuilletons jubeln. Edwin Kuntz betont in unserer Zeitung die landespolitische Bedeutung wenige Wochen vor der Vereidigung der ersten baden-württembergischen Regierung: "Indem der SDR ... Heidelberg eine so betont musikavantgardistische Aufgabe übertrug, hat er einmal im allgemeinen dem Rufe Heidelbergs als einer führenden Musikstadt Rechnung getragen, dann aber auch im Besonderen gewürdigt, was hier in den letzten Jahren im Dienste der Musica viva geleistet worden ist".
Viele Badener hatten sich schwer getan, dem Zusammenschluss zuzustimmen, da kam dieses Musikbonbon aus Stuttgart zur rechten Zeit. "Wir haben als Heidelberger alle Ursache, auf diesen Auftrag stolz zu sein, weil es im näheren Umkreis kaum Orchestermitglieder gibt, die Neue Musik so instruktiv und sauber zu interpretieren wissen wie die Heidelberger". Der Publizist Gert Kalow, damals Mieter in der Torwohnung der Alten Brücke, stellt fest: "Dass die in künstlerischen Dingen trotz ihrer Universität nicht eben neuerungssüchtigen Heidelberger so erstaunliches Interesse für Neue Musik entwickelten, ist das Verdienst ihres Mitbürgers Wolfgang Fortner (...) Seine temperamentvollen, brillant formulierten Einführungen aus dem Stegreif geben den Konzerten ihr einmaliges Gepräge".
Im historischen Archiv des SDR/SWR in Stuttgart sind Programme, Rechnungen, Korrespondenzen, Manifeste, Essays, Freikartenwünsche und Konzertkritiken rund um Musica viva in der Marstallstraße aufbewahrt; beeindruckend ist, auf welch hohem Niveau das lokale und nationale Feuilleton die Reihe begleitet. Immer wieder kommt es zu Klagen, dass der Sendesaal dem Publikumsinteresse nicht mehr gewachsen sei. 200 Sitzplätze, dabei blieb es, der Eintritt zu 2, ermäßigt 1 Deutsche Mark - da ist die Kapazität schnell erschöpft.
Auch als Lindemann 1953 Heidelberg verlässt, bleibt das Publikumsinteresse hoch. Karl Rucht, der neue Heidelberger GMD, übernimmt die Konzerte, prominente Dirigenten von auswärts dirigieren als Gäste. Es kommt vor, dass sämtliche Komponisten des Abends im Sendesaal anwesend sind. Es kommt aber auch vor, dass ein vorgesehenes Stück nicht gespielt werden kann, weil aus dem städtischen Orchester nicht genügend Streicher bereit sind, aufzutreten. Musica-viva-Konzerte gehören nicht zum normalen Dienst. Konsequenz: der SDR engagiert erstmals Musiker aus dem Mannheimer Nationaltheater und dem Kurpfälzischen Kammerorchester.
Nach einem Novemberkonzert mit Kompositionen von Luigi Nono hielt sich das Feuilleton erstmals mit Lob deutlich zurück. Die RNZ schreibt: "Die Sparsamkeit der Mittel erweist sich als Spärlichkeit, der Atem reicht nicht hin." Schlimmer noch, ein paar Konzerte später, der SDR-Sendesaal ist nicht ausverkauft, weil sich herumgesprochen hatte, "das an diesem Abend die Gehörnerven stranguliert werden sollten wie nie zuvor, eine Krachorgie", wie die Badischen Neusten Nachrichten vermuteten.
War man in den Anfangsjahren nach 1948 erst einmal begierig, diese im Dritten Reich verschlossene Musikwelt zu erkunden, melden sich ab etwa 1954 auch kritische Stimmen. Die Ludwigshafener Rheinpfalz schreibt 1955 über ein Heidelberger Konzert mit Kompositionen von Anton Webern: "Es machte Schwierigkeiten, sich in dieser konstruierten Musik zurechtzufinden. Was man hört, sind abgehackte Tonfetzen, die nach einem schwer ergründbaren Plan aus den verschiedensten Ecken des Orchesters in den Saal geworfen werden." Dagegen der bekennende Webern-Fan Kuntz: "Diese Werke sind in ihrer Art unübertrefflich, und ob sie uns nun beim Hören mehr quälen als beschenken oder nicht: Sie bedeuten eine geschichtliche Wende".
In der Saison 1956/57 trägt das Städtische Orchester nicht mehr die Last der Aufführungen, was vermutlich damit zusammenhängt, dass es immer wieder Klagen über die kurze Probenzeit gibt. Jetzt will man sich auf reine Kammermusik zurückziehen und dafür, wie Fortner in einem Memorandum schreibt, "hervorragende Solisten" von außerhalb engagieren". Zwei Monate später, im März 1957, zum ersten Mal ein Abend nur mit elektronischer Musik, unter anderem von Ernst Krenek und Karlheinz Stockhausen.
Musica viva in Heidelberg wird bis 1971 fortgeführt, dann zieht der SDR um in die Villa Bosch. Der alte Sendesaal existiert heute nicht mehr.