Identität

In Hirschberg hält ein Verein alte Traditionen am Leben

"Ohne Brauchtum stirbt die Gesellschaft". Der Volkstanz prägt die Identität von Jung und Alt und diese wiederum den Ort.

05.05.2022 UPDATE: 08.05.2022 06:00 Uhr 5 Minuten, 54 Sekunden
Leutershausen - Volkstanzgruppe am Brignais-Platz. Foto: Peter Dorn

Von Sabrina Lehr

Hirschberg. Müsste man das Wort "Tradition" in ein Bild gießen, würde es wohl so aussehen: Ein Raum, Parkettboden, die Wände bis auf halbe Höhe mit Holz ausgekleidet. Darüber weiße Wand, Schmuckteller, Wimpel und Wappen, Fotografien aus vielen Jahrzehnten. Also so wie das Hans-von-der-Au-Heim im Ortskern von Hirschberg-Leutershausen. Und müsste man das Wort "Tradition" vertonen? Es würde nach Akkordeon und rhythmisch aufstampfenden Füßen klingen.

Obergasse 1, Mittwoch, 19.45 Uhr: Nach und nach trudeln die Mitglieder des Sing- und Volkstanzkreises Leutershausen (SVK) im Saal ein. Munteres Geplauder. Ein Mann baut einen Notenständer auf, packt ein Akkordeon aus. Ein weiterer installiert eine Metallstange, die vom Boden bis zur Decke des Raumes reicht, und befestigt rote und weiße Bänder daran. Kurz vor 20 Uhr ist alles vorbereitet. 16 Männer und Frauen versammeln sich rund um die Stange, stellen sich paarweise zusammen, je ein Partner ein rotes, der andere ein weißes Band in der Hand.

Der Vorsitzenden Jürgen Gustke. Foto: Peter Dorn

Mit den ersten Tönen des Akkordeons geht es los. Stepptanzartige Schritte, die Bänder vor- und zurückschwenkend, eine gemeinsame Drehung. "Wenn einer einen Fehler macht, ist es aus", sagt Guy, der die Tanzenden von seinem Sitzplatz am anderen Raumende beobachtet. Denn während die Tänzer sich in komplizierten Figuren im Kreis bewegen, wickeln sich die Bänder in einem akkuraten Flechtmuster um die Stange. Ein Richtungswechsel der Tänzer, und schon wird das Muster abgewickelt und formt sich zu einer neuen Figur – wie die Tanzpaare auch. Ein falscher Schritt, eine falsche Bewegung und die Bänder verheddern sich.

"Das ist der Bändertanz und der klappt fast immer", lacht Jürgen Gustke nicht ohne Ironie. Denn den Volkstanz führen die SVK’ler um ihren 69-jährigen Vorsitzenden nur ein Mal im Jahr auf: beim Maibaumstellen. Bei diesem traditionellen Fest wird am 30. April oder 1. Mai – meist auf dem Dorfplatz – ein mit einem Kranz und Bändern geschmückter Baumstamm aufgestellt. Der seit dem Mittelalter dokumentierte Brauch ist in Deutschland vor allem in Baden, der Pfalz und Bayern verbreitet und wird in Leutershausen seit den 80er-Jahren gefeiert. Der Maibaum ist ein Symbol für den Frühling, das damit neu erwachende Leben sowie die Fruchtbarkeit. Und das damit verbundene Fest ist in Leutershausen eines von vielen im Ort, auf denen die in blau-rot-weißer Tracht gekleideten SVK-Tänzer seit vielen Jahren nicht wegzudenken sind.

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Streng genommen gebe es die Feste in ihrer jetzigen Form ohne den Verein überhaupt nicht. Beim SVK schlägt das kulturelle Herz des Dorfes. "Wir stellen den Maibaum und organisieren den Sommertagszug und die Kerwe", sagt Gustke, der dem 1957 gegründeten Verein seit 1985 vorsteht. Dazu kommen Auftritte auf Volksfesten in Nachbarorten – aber auch deutschlandweit und international auf Trachtenfesten und Heimattagen. Denn beim SVK wird mehr als nur getanzt. Die Vereinsmitglieder bewahren die kulturelle Identität des Dorfes; Brauchtum, das viele längst vergessen haben – und das in Vergessenheit zu geraten droht.

"Viele Vereine werden immer älter", sagt Jürgen Gustke. Und die vergangenen beiden Jahre, in denen Corona-bedingt "das Brauchtum kaltgestellt" wurde, wie er sagt, hätten ihr Übriges getan. Zuvor aktive Tänzer könnten altersbedingt nun nicht mehr tanzen, ihr Können nicht mehr an die Jungen weitergeben. "Zwei Jahre sind arg schwer für eine Gruppe, wie wir es sind", so Gustke nachdenklich. Dabei geht es dem SVK noch gut: 158 Mitglieder, darunter 35 Aktive. "Wir sind noch viele", sagt Gustke.

Die Vorstandsmitglieder Antonia Horst und Johanna Wolf. Foto: Peter Dorn

Auf dem Parkett schwofen inzwischen wieder die Paare. Drehungen, Partnerwechsel, Richtungsänderungen. Ohne große Kommandos bewegen sich die Tänzer zu der schwedischen Melodie von "Haralds Walzer". Korrekturen sind kaum nötig. Jeder Schritt sitzt, jeder scheint im Schlaf zu wissen, was er zu tun hat. Auch Eva und Margarete. Die beiden 15-Jährigen sind die jüngsten in der Runde, tanzen aber wie die alten Hasen. Was sie gewissermaßen auch sind: Der SVK ist bei ihnen Familientradition. Die Eltern sind aktiv, Eva und Margarete tanzen schon seit Jahren mit. Eine eigene Nachwuchsgruppe gibt es leider nicht mehr. "Früher hatten wir Riesenauftritte mit der Jugendgruppe", erinnert sich Gustke. Er hat den Nachwuchs gemeinsam mit seiner Frau Marietta lange betreute. Irgendwann habe es aber angefangen "wegzubröckeln". "Die jungen Leute ziehen weg nach der Schule oder fürs Studium." Eine Entwicklung, unter der auch andere Vereine leiden.

Doch es gibt auch die, die weggezogen, aber doch geblieben sind. Wie Johanna Wolf. Die 30-Jährige ist gebürtige Dossenheimerin, wohnt mittlerweile in Meckesheim. Für den Volkstanz fährt sie regelmäßig die rund 40 Kilometer nach Leutershausen. Sie sagt: "Wenn man damit aufgewachsen ist, dann ist das nicht nur Hobby, sondern Familie." Obgleich Johanna Wolf gesteht, als Teenager öfter die Tracht sofort nach dem Auftritt auf der Toilette ausgezogen zu haben.

Mittlerweile sei sie aber stolz auf ihre Aktivität im Verein, die weit über das Tanzen am Mittwochabend hinausgeht. Johanna Wolf wie auch die anderen Aktiven identifizieren sich mit dem Verein und ihrem Hobby. So sehr, dass sie am Wochenende bei den Ortsfesten helfen – Auf- und Abbauen oder hinter Bewirtungstheken stehen. So sehr, dass sie die Traditionen, die ihre Gruppe bewahrt, über regionale Grenzen tragen: zu Landes- und Bundesgartenschauen etwa, zu denen der SVK regelmäßig eingeladen wird, um mit anderen Vereinen deutsches Brauchtum zu repräsentieren.

Vor der eigenen Haustür sollen die Bräuche aber auch lebendig bleiben. Dafür kämpft der Verein. Der Vorstand ist neben dem seit fast 40 Jahren amtierenden Vorsitzenden jung besetzt. Johanna Wolf ist Jugendleiterin, die gleichaltrige Cousine Antonia Horst Kassenprüferin. Das schlägt sich in der Arbeit des Vereins nieder. So wird am Kerwesamstag seit einigen Jahren nicht mehr getanzt, sondern es spielt eine Band Livemusik – "damit die Jungen kommen", sagt Wolf. Aber Nachwuchs in den Verein zu kriegen ist schwer. Man zeigte die Tänze in Kindergärten und der Schule, bei Festen wie dem Maibaumstellen werden Kinder zum Mitmachen animiert. Das komme zwar an. "Sie dauerhaft zu kriegen, ist aber schwierig und uns Berufstätigen fehlt die Zeit", sagt Wolf. Auch die Konkurrenz zu anderen Sportarten wie Handball oder Fußball sei groß.

Inzwischen ist die Tanzfläche im Hans-von-der-Au-Heim leerer geworden. Die Metallstange ist weg, das Akkordeon auch, es hallt moderne Popmusik aus Lautsprechern. Während beim SVK eigentlich die traditionellen Volkstänze unverändert zu früheren Zeiten bewahrt werden, haben die Jüngeren das Repertoire erweitert. Gerade haben sie mit einem Line-Dance – einem aus den USA stammenden Gruppentanz – begonnen. "Line Dance zählt mittlerweile auch zu den Volkstänzen", lächelt Gustke. Die älteren SVK’ler sitzen derweil gemeinsam an einem großen Tisch, vor sich ein Stück Plunder und ein Getränk. "Es wird nicht nur getanzt, sondern auch gequatscht", sagt Johanna Wolf. Es geht um das Maibaumstellen, aber auch um Privates. Schließlich kennen sich die Mitglieder mitunter seit Jahrzehnten, haben gemeinsam als Volkstanzgruppe halb Europa und Übersee bereist und Freundschaften zu Trachtengruppen innerhalb des Kontinents, aber auch bis nach Japan geschlossen.

Was ihnen ohne den SVK fehlen würde, ist offensichtlich. Aber was wäre der Ort, was wäre die Region ohne Vereine und Gruppen wie den SVK? Jürgen Gustke beantwortet es mit einem Satz, den er nach eigenen Angaben oft zu hören bekommt: "Bei jeder Veranstaltung, die in Leutershausen stattfindet, kommen die Leute und sagen: ,Wenn wir euch nicht hätten, hätten wir gar nichts’".

Und wieso ist es dem Verein so wichtig, das Brauchtum zu bewahren, das so stark die Identität der Mitglieder und der Gruppe prägt? Hier wird Gustke ernst. "Ohne Brauchtum stirbt die Gesellschaft." Ohne Bräuche wie die Kerwe oder den Sommertagszug, bei denen der Ort zusammenkomme, bröckle die Zusammengehörigkeit der Bürger, da ist er sich sicher. Denn Identität, das ist eben auch Verwurzelung, Gemeinschaftsgefühl, Tradition. Darum werde Brauchtum auch überleben, ist Gustke überzeugt. "In den letzten beiden Jahren war die Kerwe weg, der Sommertagszug war weg, das Maibaumstellen war weg, alles war weg", zählt er auf. Als dieses Jahr dann der vom SVK organisierte Sommertagszug anstand, hätten Schulen und Kindergärten angerufen und seien allesamt zur Wiederauflage nach der Pandemie gekommen. Der Ort stand zu seinen Bräuchen – ohne sie hatte etwas gefehlt. "Man kann das Brauchtum langfristig bewahren, es ist nur ein Auf und Ab", schlussfolgert Gustke.

Dafür stehen Johanna Wolf und ihre jungen Altersgenossinnen bereit. "Wir werden das alles bewahren, so lange wir können", sagt sie. Und als Jürgen Gustke schmunzelnd sagt "Uns werden sie in der Tracht begraben müssen", schließt sich gewissermaßen der Kreis. Denn etwa Johanna Wolfs Neffe hat, kaum geboren, bereits die Kindervariante der SVK-Tracht geschenkt bekommen und getragen. Vielleicht steht also die nächste Generation bereits in den Startlöchern, um das Wort Tradition mit Leben zu füllen.


RNZ-Serie: IDENTITÄT

Identität – kaum ein Begriff hat in den vergangenen Jahren mehr gesellschaftliche Debatten ausgelöst. Darum wollen wir in einer Serie genau den Fragen nachgehen: Wer bin ich? Wie wurde ich der, der ich zu sein scheine? Welche Rollen spielt man in seinem Leben? Also: Was prägt Identität?

Die Volontäre der RNZ haben daraus eine Reportage-Serie gemacht, die in den kommenden Wochenenden im Magazin erscheinen wird. Darin beleuchten wir die verschiedenen Facetten des großen Themas – von der philosophischen Betrachtung, über identitätsstiftendes Brauchtum, vom Gendersternchen bis zu Brüchen in der Biografie, die Identität ins Wanken bringen können.

Den Auftakt machen heute Redakteur Benjamin Auber, der in der RNZ die Ausbildung der Volontäre betreut, und Sabrina Lehr (Foto), die in der Redaktion Region Heidelberg arbeitet. Kommende Woche geht Jana Schnetz (Redaktion Buchen) mit jungen Jägern auf die Pirsch.

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