Wie wir wissen, wer wir sind
Die Suche nach der eigenen Persönlichkeit kann mitunter viele Fragen aufwerfen. Dabei dürfen wir innere und äußere Einflüsse nicht unterschätzen.

Von Benjamin Auber
Berlin. Warum fühlen wir uns zu manchen Menschen und Gruppen hingezogen und zu anderen halten wir lieber mehr Abstand? Jeder Mensch hat dabei seinen eigenen Charakter und persönliche Wertvorstellungen. Im Gespräch mit dem Berliner Philosophen Philipp Hübl begeben wir uns auf die Suche nach unserer Identität:
Herr Professor Hübl, wissen Sie mit 46 mittlerweile genau, wer Sie sind?
Sie sprechen eine große Frage gelassen aus. Wenn Philosophen über personale Identität nachdenken, dann geht es darum, was für unsere Existenz essenziell ist. Viele sagen, es sind die autobiografischen Erinnerungen, die uns zu dem machen, wer wir sind. Ich glaube eher, es ist der Charakter, der unsere Identität bestimmt. Bei einem totalen Gedächtnisverlust blieben mir immer noch meine moralischen Wertvorstellungen.
Wenn Sie die Identität in einem Satz beschreiben müssten, wie würden Sie ihn formulieren?
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Identität lässt sich nicht in einem Satz fassen. Im philosophischen Sinne ist jede Sache nur mit sich selbst identisch. Wenn wir im Alltag über Identität sprechen, geht es eher um unsere Berufe, um soziale Rollen oder um eine Gruppenzugehörigkeit.
Wieso kann uns gerade die Wissenschaft der Philosophie darauf eine Antwort geben?
Die Frage, wer wir sind, was uns als Individuen ausmacht, ist eine zentrale Frage der Philosophie. Und die Verbindung zur Forschung in der Psychologie und Soziologie lautet: Im Kern hat unsere Identität etwas mit Moral zu tun.
Haben Sie ein Beispiel?
Wenn ich Deutscher bin, habe ich ja nicht nur einen Pass, sondern teile bestimmte Werte und Überzeugungen. Diese kulturelle Identität ist nicht nur an Sprache gebunden, sondern am Ende auch eine moralische Gruppenzugehörigkeit.
Warum stellen wir uns als Menschen die Frage nach uns selbst?
Menschen sind die einzigen Tiere auf der Erde, die reflektieren können. Über sich selbst nachdenken, da muss man ab-strakt sich und die Welt repräsentieren und das geht wahrscheinlich nur mit Sprache. Große Existenzfragen sind vermutlich ein Nebenprodukt der Evolution. Im Alltag stellen wir uns diese Fragen nicht so oft, es sind eher besondere Momente, wenn man über sich und das Universum nachdenkt.
Weshalb ist es wichtig über die eigenen Identität Bescheid zu wissen?
Wenn wir auf einmal unseren Kleidungsstil total verändern müssten, wäre das einschneidend, aber nicht so tragisch. Doch wenn jemand sagen würde, gib all deine Charaktereigenschaften von heute auf morgen ab, dann wäre das viel dramatischer. Wir würden gewissermaßen aufhören zu existieren.
Wie stellt sich denn die Identitätsbildung im Baby- bzw. Kindesalter dar? Und wie schwerwiegend sind etwaige Störungen in dieser Phase?
Aus der Forschung wissen wir, dass Kinder mit charakterlichen Neigungen auf die Welt kommen. Etwa zur Hälfte sind die Merkmale genetisch bestimmt. Manche Kinder sind von klein auf sehr neugierig auf die Welt, andere eher verschlossen. Wieder andere sehr gewissenhaft oder extrovertiert. Diese Eigenschaften werden durch die Erziehung und Erfahrungen zwar verstärkt, aber die Charakterzüge bleiben ähnlich. Je älter wir werden, desto stärker bildet sich eine Persönlichkeit heraus. Wenn wir von "Störungen" sprechen, meinen wir meist psychische Erkrankungen, aber auch sie sind dann Teil unserer personalen Identität.
Worüber definiert sich die Identität?
Uns prägt vieles: Erinnerungen, der Werdegang, unser Bewusstsein, selbst ästhetische Vorlieben: der Musikgeschmack überraschenderweise stärker als Vorlieben für bildende Kunst. Das alles fügt sich zu einem Gesamtbild zusammen. Aber nichts ist zentraler als unsere moralischen Werte. Ist man liberal oder traditionell, ehrlich oder unehrlich, zuverlässig oder ein Filou. Solche moralische Werte und Tugenden spielen die entscheidende Rolle für unsere Identität.
Welche Rollen spielen die sozialen Gruppen aus dem Umfeld?
Menschen sind soziale Wesen, die Gemeinschaften bilden, wie Aristoteles feststellte. Fast immer ist uns wichtig, was andere über uns denken. Wir wissen, dass die eigene moralische Identität oft mit der Gruppenidentität einhergeht. Wir möchten schon, dass unser Umfeld ähnlich über Themen wie Klimawandel, Einwanderung oder soziale Gerechtigkeit denkt. Den Menschen ist nicht wichtig, ob die Gruppenmitglieder besonders intelligent sind oder alle die gleichen Fähigkeiten haben. Der Hauptfaktor ist, dass man gemeinsame Werte teilt.
Wie wichtig sind in diesem Zusammenhang Vereine? Viele verzeichnen Rückgänge ...
Die Deutschen sind in so vielen Vereinen wie nie zuvor. Aber die Bindungen sind oft schwächer als früher, als man seinem Sportclub noch lebenslang die Treue gehalten hat. Vereine sind enorm wichtig in der Gesellschaft, weil man sich in einem öffentlichen Raum ständig miteinander austauscht und so den Zusammenhalt stärkt. Vereine und Parteien bilden außerdem die verbindende Mitte zwischen Individuum und Staat.
Kommen Identitätskrisen heutzutage häufiger vor? Woran kann es haken?
Eine Erklärung könnte sein, dass man vor wenigen Jahrzehnten noch stärker in eine feste Gruppe hineingeboren wurde: als Protestant oder Katholik, Badener oder Schwabe. Oft hat man sich an den Berufen der Eltern orientiert. Am Arbeitsplatz ist man ein ganzes Leben geblieben. Diese Stabilitätserfahrung geht in der modernen Wissenschaftsgesellschaft verloren. Wir können unsere Lebensvorstellungen frei wählen, sind aber auch zur Freiheit verurteilt. Plötzlich muss ich mich daher fragen, ob ich mich für den richtigen Lebensweg entschieden habe.
Und wie mit einem Schönheitsideal umgehen?
Ein Paradebeispiel: Heute ist man mit so vielen Möglichkeiten konfrontiert, besser auszusehen. Und man wird ständig darauf gestoßen, dass man sich zum vermeintlich Besseren verändern könnte. Das gilt eigentlich für alle Aspekte unseres Lebens.
Inwiefern spielen das Land und die Gesellschaft, aus der wir kommen, eine Rolle?
Wir übernehmen die Werte der Kultur, in der wir hineingeboren werden. Darum ist es ein Unterschied, ob ich in einem afghanischen Dorf oder in Kopenhagen aufgewachsen bin. Das kann auch weiter gehen, Beispiel Europa: Unsere Werte sind ähnlich, deswegen konnten sich viele verschiedene Staaten auch zu einer Europäischen Union zusammenfinden.
Die Identitätssuche bei Migration ist für die Betroffenen immer ein schwieriges Thema ...
Viele Migranten wandern in Kulturkreise ein, die sozioökonomisch wohlhabender aber auch sozial liberaler sind als ihre Herkunftsländer. Das birgt Spannungen, weil jeder natürlich seine eigenen Werte behalten will, sich aber auch anpassen muss. Gerade für die zweite Generation besteht oft ein Identitätskonflikt: zwischen den Erwartungen der Eltern und denen der Mehrheitsgesellschaft.
Schauen wir auf die äußeren Einflüsse: Inwiefern können die Folgen des Ukraine-Kriegs die jeweilige Identität beeinflussen?
Das ist noch offen. Was wir aber sehen ist, dass die Länder Deutschland, Japan und Italien bisher überdurchschnittlich pazifistisch waren, vermutlich aus der Erfahrung der eigenen Kriegsschuld he-raus. In Deutschland scheint sich das jetzt zu ändern. Selbst die Grünen haben sich weit von ihren Anfängen der Friedensbewegung entfernt. Bei Gefahr neigen alle Menschen zum "autoritären Reflex": Bedrohungen von außen schweißen eine Gruppe zusammen und man ist dann auch eher bereit, die Gemeinschaft und die Freiheit gegen den Feind zu verteidigen, notfalls mit Gewalt.
Wird Identitätssuche in einer mittlerweile hochtechnisierten und sich ständig verändernden Welt noch schwieriger werden?
Die Herausforderung wird größer, weil es mittlerweile unzählige Identitätsangebote gibt. Ein Beispiel ist der Konflikt zwischen Radfahrern und Autofahrern in der Stadt. Hier beobachtet man dasselbe Territorialverhalten wie früher zwischen Staaten wie Preußen und Bayern, nur im Kleinen. Man sieht die moralischen Verstöße der Gegenseite, nicht aber die der eigenen Gruppe. Neu ist allerdings, dass man die selbstgewählten Stämme auch schnell wieder verlassen kann, wenn andere Dinge wichtiger werden. Meine Vermutung: Die Polarisierung zwischen immer kleineren Gruppen und Milieus wird zunehmen, auch wenn die Gesellschaft insgesamt immer toleranter wird.
BIOGRAFIE

Name: Philipp Hübl
Geboren am 21. November 1975 in Hannover.
Werdegang: Hübl studierte Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford. Er hatte Stipendien von der Fulbright-Scholar und der Studienstiftung des deutschen Volkes. Von 2012 bis 2018 war er Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart. Zuvor hat er an der RWTH Aachen und der Humboldt-Universität Berlin gelehrt. Momentan ist er Gastprofessor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Der 46-Jährige forscht zur Philosophie des Geistes, Handlungstheorie, Rationalitätstheorie, Sprachphilosophie, Moralpsychologie und Wissenschaftstheorie.
Werke: Immer wieder mischt sich der Spiegel-Bestseller-Autor in gesellschaftliche Debatten ein, mit Beiträgen im journalistischen Bereich, aber auch mit seinen Büchern "Die aufgeregte Gesellschaft" (2019), "Bullshit-Resistenz" (2018), "Der Untergrund des Denkens" (2015), oder mit "Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie" (2012).
Privat: Philipp Hübl hat zwei Brüder, ist verheiratet und lebt in Berlin.
RNZ-Serie: IDENTITÄT
Identität – kaum ein Begriff hat in den vergangenen Jahren mehr gesellschaftliche Debatten ausgelöst. Darum wollen wir in einer Serie genau den Fragen nachgehen: Wer bin ich? Wie wurde ich der, der ich zu sein scheine? Welche Rollen spielt man in seinem Leben? Also: Was prägt Identität?
Die Volontäre der RNZ haben daraus eine Reportage-Serie gemacht, die in den kommenden Wochenenden im Magazin erscheinen wird. Darin beleuchten wir die verschiedenen Facetten des großen Themas – von der philosophischen Betrachtung, über identitätsstiftendes Brauchtum, vom Gendersternchen bis zu Brüchen in der Biografie, die Identität ins Wanken bringen können.
Den Auftakt machen heute Redakteur Benjamin Auber, der in der RNZ die Ausbildung der Volontäre betreut, und Sabrina Lehr, die in der Redaktion Region Heidelberg arbeitet. Kommende Woche geht Jana Schnetz (Redaktion Buchen) mit jungen Jägern auf die Pirsch.