Mannheimer Neckarstadt-West - Ein vergessener Stadtteil?
ZDF-Reportage zeichnet düsteres Bild der Neckarstadt-West - Drei gemeinnützige Helfer begleitet

Von Alexander Albrecht
Mannheim. Die Wände sind schimmelig, die wild verlegten Elektroleitungen nicht gesichert, und nach einer Heizung oder einem Ofen sucht man hier vergebens. Auf 40 Quadratmeter haust eine vierköpfige Familie in einer schmuddeligen Wohnung. Der Vater, ein Tagelöhner, will seine Tochter nicht unbegleitet nach draußen lassen – aus Angst, dass sie dort von einem Zuhälter oder Freier aufgegriffen wird. "Die Neckarstadt-West ist ein schlechter Ort", sagt der Bulgare. Die kleine Maria schläft aus Platzgründen in der Küche.
Die Familie hat Besuch. Peter Deffaa, Schulleiter der Neckar-Schule, will von Maria wissen, wie das Deutschlernen mit dem geliehenen Tablet in Corona-Zeiten klappt. Beim Rausgehen meint er, in dem Haus – das eher eine Bruchbude ist – dürfe es niemals brennen. "Da kommt keiner mehr lebend raus", glaubt er.
Deffaa erinnert sich an einen Fall vor sechs Jahren, als drei bulgarische Kinder bei einem Brand in einer Schrottimmobilie erstickten. Er blickt auf eine Reihe aufgewölbter und aufgebrochener Briefkästen. Die Bewohner haben darauf ihre Namen mit schwarzem Filzstift gekritzelt. Die Fluktuation ist hoch, hier lebt niemand gerne. Deffaa fragt sich schon lange, warum die Mannheimer Stadtverwaltung solche Zustände nicht in den Griff bekommt.
Es sind viele eindringliche, nachdenklich machende Szenen, die ein ZDF-Team in der Neckarstadt-West eingefangen hat und die am Dienstagabend in der Reihe "37 Grad" ausgestrahlt worden sind. Autorin Güner Yasemin Balci hat für ihre halbstündige Reportage eine Frau und zwei Männer begleitet, die – Zitat aus dem Off – "dorthin gehen, wo andere lieber wegschauen". Neben Schulleiter Deffaa sind es Julia Wege von der Prostituierten-Anlaufstelle "Amalie" und Stefan Semel vom Verein "Aufwind", der 25 leistungsschwachen Kindern aus benachteiligten Familien ein Ersatzzuhause mit Hausaufgabenbetreuung und warmen Mahlzeiten bietet.
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"Zwei Quadratkilometer Stress" lautet der etwas reißerische Titel des sehenswerten Beitrags, eine Anspielung auf die Fläche der Neckarstadt-West, in der 22.000 Menschen leben, davon viele Armutsmigranten aus Bulgarien und Rumänien. Es ist Balcis Verdienst, dass sie die drei Protagonisten erzählen lässt. Dadurch kann sie die Missstände im Viertel dokumentieren, ohne selbst alles schwarzmalen zu müssen.
Die dargestellten Schicksale sind auch so schlimm genug. Eine Prostituierte erzählt in den geschützten Räumen von "Amalie" von ihrem Leben voller Angst und Abhängigkeiten. Vor Corona habe sie für die Zuhälter 200 bis 250 Männer im Monat bedienen müssen. Während sie sich als eine der wenigen an die Hygieneauflagen und Kontaktverbote halte, machten andere Sexarbeiterinnen weiter. Weil sie dazu gezwungen würden oder dringend Geld für ihre Familien in der südosteuropäischen Heimat bräuchten.
"Iva", eine weitere Prostituierte, muss ständig ihre Kinder in Bulgarien belügen und verspricht ihnen, bald nach Hause zu kommen. Tatsächlich schafft sie an. Und weil sie obdachlos ist, kommt sie laut Julia Wege bei dubiosen Männern unter, die sie ausbeuteten. Die "Amalie"-Leiterin und ihr Team haben bereits 90 Frauen aus der Prostitution geholt. Und auch Schulleiter Deffaa lässt nichts unversucht, dass die zwischen Straßenstrich und Spielplatz aufwachsenden Kinder nicht in Hartz IV landen oder kriminell werden.
Doch manchen Eltern im Viertel ist offenbar an einer besseren Zukunft ihrer Sprösslinge nur wenig gelegen. So berichtet Deffaa von Schülern, die an mehr als 50 Prozent der Schultage fehlten. Glück haben Kinder, die es ins spendenfinanzierte Haus von "Aufwind" schaffen. Stolz erzählt Stefan Semel, dass die überwiegende Mehrheit seiner Schützlinge nach der Grundschule eine Empfehlung für das Gymnasium oder die Realschule erhält. Das sind mutmachende Beispiele. Damit kann der Mannheimer Polizeisprecher Norbert Schätzle nicht dienen. Er weiß von vielen Körperverletzungen im Stadtteil, zudem hätten die Beamten Hinweise auf Sozialbetrug und illegale Prostitution. Deshalb setzte die Polizei bei Razzien immer wieder Nadelstiche, um Kriminellen zu zeigen, "dass sie hier nicht tun und lassen können, was sie wollen". Seit Jahren im Kiez bekannt sind Probleme mit Lärm und Müll.
Mit Balcis zentralen Befunden, dass die "vergessene" Neckarstadt-West ein Synonym für Armut und Abstieg sei und sich nachts zur "No-Go-Area" verwandle, kann sich Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz im Gespräch mit der RNZ nicht anfreunden. Er bestätigt Probleme, hätte sich aber gerade im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ein "differenzierteres Bild" vom Stadtteil gewünscht – "und kein Zerrbild am Rande der Absurdität". Tatsächlich hat Balci mit keinem Entscheidungsträger der Stadt gesprochen, was Kurz enttäuscht.
Der OB zählt viele Maßnahmen auf, die dazu beigetragen hätten, die Lebensverhältnisse in der Neckarstadt-West zu verbessern. Exemplarisch nennt er die Umgestaltung des Neuen Messplatzes, ein Kulturkiosk oder den Kauf von "Problemimmobilien" durch die städtische Wohnungsbaugesellschaft GBG. Der Stadt sei es gelungen, die Zahl dieser überbelegten und von skrupellosen Südosteuropäern an Landsleute vermieteten Gebäude von 130 bis 140 auf "unter 20" zu reduzieren, hält er Deffaas "Untätigkeitsvorwurf" entgegen.