Mannheim

"Spiegel TV" zeichnet ein düsteres Bild von zwei Stadtteilen

Im Rathaus ist man empört, die Polizei sieht unglücklich aus

05.12.2018 UPDATE: 06.12.2018 06:00 Uhr 2 Minuten, 55 Sekunden

Die Neckarstadt-West ist kein einfacher Stadtteil, aber auch ein pulsierender, wie hier bei der Lichtmeile vor zwei Jahren. Foto: Gerold

Von Alexander Albrecht

Mannheim. Mit eiskaltem Blick und dramatisch klingenden Stakkato-Sätzen begrüßt Moderatorin Maria Gresz am späten Montagabend das Fernsehpublikum zur "Spiegel TV Reportage" auf RTL. "Sozialhilfekosten, Drogenkriminalität, Verwahrlosung, Armutszuwanderung, Schwarzarbeit. Mannheim hat von allem zu viel. Nicht erst seit gestern und nicht überall, aber in den Stadtteilen Schönau und Neckarstadt-West haben die Probleme die Zumutbarkeitsgrenze der Bewohner längst überschritten": Mit markigen Worten leitet die Ansagerin zu dem Beitrag von Yasmin Javuz über. Die Redakteurin habe "die verlorenen Söhne Mannheims" begleitet.

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Maria Gresz hat nicht zu viel versprochen. Wer den sensationsheischenden Beitrag sieht und für voll nimmt, wird wohl künftig einen großen Bogen um die Viertel machen. Die Neckarstadt-West und die "Tschänau" - zwei verkommene Sündenpfuhle, so kommt es in der Reportage rüber. Kaum ein Klischee, das nicht bedient wird und den Voyeurismus der RTL-Zuschauer befriedigt. Dazu passend spielen Maulhelden, Drogendealer, Kleinkriminelle und Hartz-IV-Empfänger die Hauptrollen in der Doku. Wer "Spiegel TV" einschaltet, bekommt klassisches "Trash-TV" serviert, eine überforderte Polizei und massive Eingriffe in die Privatsphäre von Bewohnern durch das Drehteam inklusive.

Hintergrund

Wie die Neckarstadt-West aufgewertet wird

Heruntergekommene Immobilien gezielt aufkaufen, sanieren und zu bezahlbaren Preisen vermieten, das Neckarvorland beleben, den Neumarkt mit dem wieder eröffneten Kulturkiosk attraktiver gestalten: Anfang

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Wie die Neckarstadt-West aufgewertet wird

Heruntergekommene Immobilien gezielt aufkaufen, sanieren und zu bezahlbaren Preisen vermieten, das Neckarvorland beleben, den Neumarkt mit dem wieder eröffneten Kulturkiosk attraktiver gestalten: Anfang vergangenen Jahres hat die Stadt damit begonnen, die lange vernachlässigte Neckarstadt-West aufzuwerten. Oberbürgermeister Peter Kurz rief dazu das Projekt "Lokale Stadterneuerung" ins Leben und beauftragte die städtische Tochtergesellschaft MWSP damit.

Ziel ist es, ein lebenswertes und vielfältiges Quartier für alteingesessene Neckarstädter, Zuwanderer aus der ersten Migrantengeneration, Südosteuropäer, Studenten, Gewerbetreibende und Künstler zu schaffen, in dem sich alle wohl fühlen. Ebenfalls im Jahr 2017 ist in Abstimmung mit der Polizei eine "Sicherheitsinitiative" an den Start gegangen, die unter anderem regelmäßige Gaststättenkontrollen vorsieht und laut Stadtsprecherin Monika Enzenbach inzwischen Wirkung zeigt.

In der Neckarstadt-West sind laut den Zahlen des kürzlich vorgestellten "Sozialatlas 2017" rund 22 Prozent der Menschen auf staatliche Hilfe angewiesen, in Schönau sind es 26 (Nord) beziehungsweise 6,5 Prozent (Süd/West). "Beide Stadtteile sind keine vergessenen Stadtteile, wie uns der Beitrag von Spiegel TV glauben machen will", sagte Enzenbach.

Für die Schönau sei ein Sanierungsprogramm mit einem Volumen von 135 Millionen Euro aufgelegt worden. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft GBG hat bereits damit begonnen, 1700 Wohnungen aus ihrem Bestand zu renovieren. Die Maßnahme ist auf zwölf Jahre angelegt, wobei es Fördergelder möglich machen, die Kosten nicht voll auf die Mieter umzulegen. Laut Geschäftsführer Karl-Heinz Frings liegt die Durchschnittsmiete bei GBG-Objekten aktuell bei 6,19 Euro pro Quadratmeter. (alb)

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Da ist ein Möchtegern-Gangster-Rapper zu sehen, der sich mit seinen Straftaten brüstet und in einem Keller mit Kumpels kifft. Seine Heimat, die Schönau, nenne man auch "Endstelle", weil dort die Straßenbahnlinie endet, aber auch 70 Prozent der Menschen im Stadtteil abgehängt seien. Vermummt sitzt ein Drogendealer in seinem Wohnzimmer in der Neckarstadt und nennt Polizisten "Hurensöhne". Die Wohnung eines anderen Manns ist derart verdreckt und vermüllt, dass man sich fragt, wie ein Mensch darin leben kann. Die einen Befragten genießen das Rampenlicht, die anderen sind offensichtlich kaum dazu in der Lage, sich dagegen zu wehren.

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Die Reportage verzichtet weitgehend auf Einordnung. "Reißerische Beiträge wie dieser sind weit davon entfernt, ein ausgewogenes Bild der Realität zu zeigen. Sie setzen nur auf den schnellen Effekt und werden der Stadt und den Menschen, die hier leben, in keinster Weise gerecht", ärgert sich Stadtsprecherin Monika Enzenbach. Und nicht nur darüber. Die Redakteurin habe keine Anfrage im Rathaus gestellt und Fakten ermittelt. "Gerne hätten wir ihr geholfen, Ansprechpartner vor Ort zu vermitteln und auch offensichtliche Recherchelücken zu vermeiden", so Enzenbach.

Gabriel Höfle sieht das ähnlich. Der Quartiermanager in der Neckarstadt-West nennt den Beitrag "erstaunlich einseitig und - freundlich formuliert - unsäglich". Der Einsatz von Kulturschaffenden und der vielen Initiativen sei völlig ausgeblendet worden.

Schon Anfang vergangenen Jahres war in Mannheim darüber diskutiert worden, ob die Neckarstadt-West eine "No-Go-Area" ist. Als solche hatte sie die Journalistin Düzen Tekkal in der ARD-Talkrunde "Anne Will" bezeichnet. Monatelang habe sie dort für eine Reportage recherchiert, behauptete sie.

Ein eingespielter "Vorgeschmack" bei Anne Will zeigte jedoch gleich zu Beginn den Jungbusch. Die RNZ fragte bei Tekkal an, ob und wann die öffentlichkeitswirksam angekündigte Reportage ausgestrahlt wird. Eine Antwort blieb die Journalistin schuldig. Handwerkliche Fehler ziehen sich auch durch die "Spiegel TV Reportage". So wird von der Schönau gesprochen, während auch hier tatsächlich der Jungbusch beziehungsweise das Hafengebiet deutlich zu erkennen ist.

Die Grenzen des journalistischen Anstands und Persönlichkeitsrechte überschreitet das Spiegel-TV-Team, als es einen Polizeieinsatz in einer verwahrlosten Neckarstädter Wohnung filmt. Die Beamten kümmern sich um eine 67-jährige Frau, die auf den Kopf gefallen ist - in der Nähe liegt ihr Partner. Tot, und das offenbar schon seit mehreren Stunden, wie der Notarzt vermutet. Der Kameramann hält voll drauf und fängt die nackten Beine der Leiche ein.

Die anwesenden Ermittler äußern sich zu dem Fall - und niemand von der Pressestelle, wie es in solchen Fällen üblich ist. Ein Sprecher des Mannheimer Präsidiums bestätigt, dass eine Drehgenehmigung vorgelegen habe. Man sei selbst unglücklich über die Szenen und den Beitrag. Die Fernsehjournalistin habe versichert, ein Stadtteilporträt senden zu wollen. Die Polizei stimmte zu, allerdings unter der Bedingung, dass der Bericht "nicht in Richtung No-Go-Area" geht, wie der Sprecher sagt.

Keine Angaben will er hingegen dazu machen, ob die Reportage intern Konsequenzen hat. Die Polizei kommt in dem Beitrag nicht gerade positiv weg. Bei einer Razzia in Gaststätten geht den Beamten lediglich ein Südosteuropäer ins Netz, der offenbar "schwarz" in einer "Bulgaren-Kneipe" jobbt. Daneben überwältigen sie einen Störenfried, der gegenüber einem Ordnungshüter handgreiflich geworden war und sich von der Festnahme unbeeindruckt zeigt.

Hilflos erscheint die Staatsmacht bei einem jungen Mann, der am Ende der Reportage zugedröhnt und mit mehreren "Rolis" ums Handgelenk in einem Luxusschlitten sitzt, dessen Wert er auf 150.000 Euro beziffert. Wie er sich den Wagen leisten kann? "Geht schon irgendwie". Nach seriöser Arbeit hört sich das nicht an.

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