Ein Erfahrungsbericht von Johannes T. Tran
Wenn ich mit meinem Motorrad fußballgroßen Schlaglöchern und tratschenden Marktfrauen ausweiche, wenn ich mit vietnamesischen Freunden eiskalten Trà Dá (grünen Tee) genieße, wenn Down-Syndrom-Kind Chung ausgelassen zu blecherner Handymusik tanzt, wird mir immer wieder klar, dass ich in dieser Sekunde nirgendwo anders sein möchte. Vietnam! Es war die einzig richtige Entscheidung, die elterliche Höhle in Sandhausen zu räumen für ein Jahr Freiwilligenarbeit.
Als Halbvietnamese, der das Land seines Vaters zuvor noch nie besucht hatte, gestaltete sich die Suche nach einem geeigneten Gastland nicht sonderlich kompliziert. Nach Bewerbungen und Vorstellungsgesprächen flatterte schließlich die Zusage ins Haus: Vietnam was calling! Mit der "Diakonie Mitteldeutschland" als Trägerorganisation würde ich ein Jahr lang in einer sozialen Einrichtung für behinderte und HIV-kranke Kinder sowie Waisen und hilfsbedürftige Alte arbeiten. Ort des Geschehens, an dem ich mit sechs anderen Freiwilligen in einer Wohngemeinschaft leben und zur Arbeit gehen sollte, ist die Kleinstadt Bac Giang im Norden Vietnams, gut eineinhalb Stunden Busfahrt von der Hauptstadt Hanoi entfernt (bei manchen lebensmüden Busfahrern nur eine Stunde).
Dieses Land unterscheidet sich in seiner Kultur, seinen Menschen und ihrer Lebensmentalität in unzähligen Gesichtspunkten so stark von Deutschland, dass ich mich manchmal gar in einer anderen Welt wähne. Etliche Aspekte sind zur einen Zeit unglaublich faszinierend und erfüllend, aber können mir schon am nächsten Tag den Nerv rauben.
Ein treffendes Beispiel hierfür ist das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Privatsphäre und Gemeinsinn. Eines ist man in diesem Land eigentlich nie: alleine. Vietnamesen sind die neugierigsten, kontaktfreudigsten und gastfreundlichsten Menschen, denen ich bislang begegnet bin. In Vietnam muss man sich nicht integrieren, hier wird man integriert! Das Interesse der Leute erreicht dabei bisweilen eine Ebene, die in Deutschland sicherlich als aufdringlich eingestuft werden würde: "Hast du eine Freundin? Ach nein? Die vietnamesischen Mädchen sind hübsch, nicht wahr?"
Ich bin überzeugt, dass man es als Ausländer in Vietnam deutlich leichter hat als in Deutschland. Seit der ersten Woche hier bin ich mit einem anderen Freiwilligen festes Mitglied in einem örtlichen Fußballteam. Wie es dazu kam? Wir waren gerade in die ersten zaghaften Schritte des Motorradfahrens vertieft, als ein Mann am Straßenrand uns unvermittelt ansprach und zu einem Bier einlud. Man kam ins Gespräch, redete über Fußball, er erzählte uns von seiner Mannschaft, und im Nu standen wir neben seinen Teamkollegen auf dem Rasen.
Anfangs fiel es mir schwer zu glauben, dass die Menschen mich komplett ohne Hintergedanken kennenlernen wollen. Wird man in Deutschland von einem wildfremden Menschen auf ein Getränk eingeladen, schwirrt einem wohl eher die Angst vor K.o.-Tropfen im Glas durch den Kopf. Mir ist innerhalb kurzer Zeit klar geworden, wie fragwürdig und traurig ein solcher Gedankengang im Grunde ist.
Als ich hier ankam, konnte ich praktisch kein Wort Vietnamesisch. Nicht nur durch den organisierten Vietnamesisch-Unterricht, sondern in erster Linie durch den besagten Trà-Dá-Klatsch ist mein Wortschatz innerhalb von zwei Monaten auf ein Level angestiegen, das für den üblichen Smalltalk locker ausreicht.
Was sich großartig anhört, kann allerdings an manchen Tagen zu einer Plage werden. Dann etwa, wenn man etwas Zeit für sich, etwas Abstand wünscht; etwas, das es in diesem Land nicht zu geben scheint. Handwerker schnuppern ungefragt in das eigene Zimmer und amüsieren sich über das nicht gemachte Bett. Man kommt hundemüde von der Arbeit nach Hause und wird auf der Straße von einer Horde vietnamesischer Schüler um gemeinsame Fotos gebeten. Oder man erklärt zum hundertsten Mal, dass man doch eigentlich noch nicht ans Heiraten denkt.
Mindestens genauso kräftezehrend und doch im gleichen Moment so erfüllend ist der eigentliche Grund, weshalb ich nach Vietnam gekommen bin: die Freiwilligenarbeit. Die meiste Zeit kümmere ich mich um die Kinder und gebe mit den anderen Freiwilligen den Unterhalter, Tröster, Pfleger, Papa und Freund. Umso frustrierender, wenn man an Mauern stößt.
So stehen etwa die HIV-infizierten Kinder in der internen Hierarchie weit unter den Waisenkindern und bekommen von den Mitarbeitern deutlich weniger Rechte zugesprochen. Bis sich eine frühere Freiwilligengeneration vor wenigen Jahren nach langem Kampf endlich durchsetzen konnte, hausten diese Kinder gar in einem dunklen Raum und kamen praktisch nie in Kontakt mit anderen Menschen. Mitarbeiter und gesunde Kinder hatten Angst, sich durch bloßen Körperkontakt mit dem Aids-Virus anzustecken. Ganz verschwunden ist dieses Missverständnis immer noch nicht. Vor kurzem hatten wir überlegt, einen gemeinsamen Ausflug mit allen Kindern zu organisieren - und mussten unsere Pläne verwerfen. Der Grund: Die Waisenkinder weigerten sich, zusammen mit den HIV-infizierten Kindern in einem Bus zu sitzen.
Derartige für Außenstehende schwer nachvollziehbare Denkmuster aufzubrechen, wird wohl auch unserer Freiwilligengruppe in einem Jahr nicht gelingen. Sehr wohl aber können wir etwas an dem aktuellen Alltag der Kinder verändern, und das mit unspektakulärsten Mitteln. Die Kinder mit auf den Markt nehmen. Einen Film am Laptop schauen. All das sind Aktionen, die recht belanglos erscheinen mögen und doch den Kindern größtmögliche Freude bereiten.
Nach durchschnittlich sieben Stunden Arbeit pro Tag sind wir meistens fix und fertig, wenn wir spätnachmittags nach Hause kommen. Wenn fünf Kinder gleichzeitig auf einem herumklettern, ist in jedem Fall Durchhaltevermögen gefordert. Und nicht schlappzumachen, zahlt sich in diesen besonderen kleinen Momenten aus, die für jede Anstrengung entschädigen. Etwa, wenn ich mit Ti, dem kleinen Jungen mit missgebildeten Armen und Beinen, einem Fußball nachjage und er mehr Einsatz und Leidenschaft an den Tag legt als mancher Fußballprofi meines deutschen Lieblingsvereins. Oder wenn ich den Opas eine Flasche Bier ins Zimmer schmuggle und der blinde Ong Dau nach einem genüsslichen Schluck sein zufriedenes Seufzen raushaut.
Konfliktpotenzial ergibt sich etwa aus dem hierarchischen Denken, das in Vietnam ganz groß geschrieben wird: Je älter man ist, desto mehr Respekt verdient man und desto mehr Pflichten und Gehorsam kann man von jenen einfordern, die unter einem in der Pyramide stehen. Wo wir jungen Freiwilligen in dieser Rangordnung angesiedelt sind, ist nicht schwer zu erraten. Anders als in Deutschland ist es in Vietnam nicht ohne Weiteres möglich, Verbesserungsvorschläge, geschweige denn Kritik gegenüber Höhergestellten zum Ausdruck zu bringen. So kommt es vor, dass wir manche Aufgaben auf eine Art und Weise erledigen müssen, die wir anders und vermutlich auch effizienter gestalten würden.
Zwei Monate bin ich nun hier und habe schon so viel erlebt, dass ich mir gar nicht ausmalen kann, was in den kommenden zehn Monaten noch alles kommen mag. Vietnam kann zwar recht anstrengend sein, nimmt einen aber im gleichen Moment in den Arm und lässt einen nicht mehr los.