Köln/Bonn (dpa) - Dietmar ist heute einer der Bestseller. Die Jugendlichen hören gebannt zu. Wie er damals, vor 35 Jahren, eine Bank betreten und sie überfallen hat. Weil er Geld brauchte, um seine Freundin zu heiraten. Wie er anschließend weiterlebte, unentdeckt. Bis er ein Jahr später festgenommen wurde. Urteil: vier Jahre Gefängnis. 29 Monate davon hat er abgesessen. "So etwas machen nur Dumme", sagt der 60-Jährige heute. Lange sei er sauer auf sich selbst gewesen. "Mittlerweile kann ich damit umgehen."
Dietmar fand nach seiner Haft zurück ins Leben, Freunden sei Dank. Jetzt erzählt er darüber - und lässt sich ausfragen. Möglich macht solche Begegnungen die "Lebende Bibliothek", ein mobiles Projekt des Diözesan-Caritasverbandes in Köln. Menschen mit außergewöhnlichen Geschichten stellen sich als "Bücher" zur Verfügung, andere dürfen sie "leihen" und "lesen". Wie echte Bücher tragen die Menschen Titel, etwa "Jüdisch und schwul - doppeltes Pech im Leben?", "Geflohen aus Syrien" oder "Aufgewachsen im sozialen Brennpunkt".
An diesem Tag gastiert die "Lebende Bibliothek" im Robert-Wetzlar-Berufskolleg in Bonn. Schüler der Fachoberschule für Gesundheit und Soziales sowie Ernährung und Hauswirtschaft dürfen sich die "Bücher" aussuchen und in Gruppen mit ihnen reden. Sonst sind es immer Vier-Augen-Gespräche. Ausleihfrist: 30 Minuten. Ist ein "Buch" nicht vorgemerkt, kann man auch verlängern. Nach vier bis fünf Gesprächen am Tag ist Schluss. Eine weitere Bedingung: Man muss das "Buch" mental und körperlich unbeschädigt zurückgeben.
Was mit dem Geld passiert sei, fragt ein Junge Dietmar. "Das habe ich verbraten", sagt der. Die Runde lacht. Dietmar fügt hinzu: Na ja, er habe geheiratet, die Wohnung eingerichtet, sich ein Auto gekauft. Das war's. "Ich hätte mir das alles ein bisschen dramatischer vorgestellt", sagt die 18 Jahre alte Matea hinterher. Aleyna, auch 18, staunt: "Man sieht ihm das gar nicht an." Einen Bankräuber haben die Jugendlichen sich offenbar anders vorgestellt. Wie? Keine Ahnung. Aber nicht so - graue Haare, Brille, gestreifter Schal. So normal.
Neben Dietmar sind heute noch zehn weitere "Bücher" an die Unesco-Projekt-Schule gekommen. Darunter Britta, 54, seit zehn Jahren blind. 17 Operationen an den Augen hat sie hinter sich. "Jetzt ist es ganz dunkel", sagt sie. Bernd, 63, war früher wohnungslos. Nerges ist eine liberale junge Muslima, Curt ein 66 Jahre alter Homosexueller, der sich für die katholische Kirche einsetzt.
Auch Jörn ist dabei. "Ich bin der Alkoholiker in der Runde", stellt er sich vor. Die Jugendlichen wirken im Verlauf des Gesprächs immer betroffener. Alkohol, Partysaufen, das kennen sie. So hat es bei Jörn auch angefangen. Irgendwann wurde eine Sucht daraus. "Ich hatte mich schon aufgegeben", sagt der 56-Jährige. Seit zwei Jahren ist er trocken. Alkohol werde nicht als Droge angesehen, sagt er. "Gesoffen wird überall. Überlegt mal, allein schon, um Mädchen kennenzulernen." Die Jugendlichen nicken. "Alkohol gehört halt so dazu", sagt Jule, 18. Und hinterher: "Ich hätte ihm gerne noch 1000 weitere Fragen gestellt."
Die Caritas-Referentin Sabine Kern leitet das Projekt. Die Idee stammt aus Dänemark, Kern ist in Wien darauf gestoßen. Und beschloss, das Konzept für die Caritas in Köln umzusetzen. Das war 2013. Ein Jahr später stehen die ersten lebenden Bücher auf einem Straßenfest. "Das war ein Testballon", sagt Kern. Er funktionierte.
Inzwischen ist es ein dauerhaftes Projekt geworden. Knapp 300 lebende Bücher hat Kern seither verliehen - an rund 800 Leserinnen und Leser im ganzen Rheinland. Mit ihren "Büchern" kommt sie dorthin, wohin sie eingeladen werden - in Gemeindehäuser, Initiativen, Vereine, Schulklassen, auf Marktplätze, Tagungen, auch mal in den Landtag. Die NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) war jüngst dabei, als die "Lebende Bibliothek" in einer Kölner Schule Station machte.
Kern recherchiert ihre Bücher im Internet, findet sie über Verbände, Medienberichte. Und sie bezieht die Kooperationspartner mit ein, die die "Lebende Bibliothek" gebucht haben. "Meistens kennt jeder irgendwen, mit der und der Erfahrung, der und der Geschichte." Teils haben die Veranstaltungen nur ein Thema, etwa Flucht, Religion oder Sucht. "Ich versuche, die Bücher immer lokal zu bekommen", sagt Kern. Das erleichtere den Dialog. Inzwischen hat sie eine Datenbank mit Teilnehmern, die immer wieder mitmachen.
"Wir wollen Menschen miteinander in Kontakt bringen, die sich sonst nicht treffen würden", sagt Kern. Viele Leute hätten eine feste Meinung zu einem Thema, Vorurteile - Betroffene aber kennen sie oft nicht. "Wir möchten einen Raum bieten für Fragen, die woanders keinen Platz haben", sagt Kern. Im Alltag traue man sich vieles nicht anzusprechen.
Die Bücher bekommen eine Aufwandsentschädigung, Essen und Trinken, die Fahrtkosten bezahlt. Der Rest ist Ehrenamt. Jeder hat seine Gründe. "Ich habe festgestellt, dass sehr viele Leute Berührungsängste haben, die auf Unkenntnis basieren", sagt Britta, die Blinde. "Ich will den Leuten diese Ängste nehmen, damit sie unbefangen damit umgehen können." Profitieren würden beide Seiten.
Bernd hat wieder eine Wohnung. "Irgendwann habe ich verstanden, dass ich mit meinem Leben nach außen gehen kann", sagt er. Jörn will andere mit seiner Geschichte warnen, Dietmar Jugendlichen vermitteln: "Wo Probleme sind, muss man sich irgendwem anvertrauen!"