Christian Henn freut sich, dass die Tour läuft. Aber die Fans ohne Masken am Straßenrand bereiten ihm Sorgen. Foto: Imago
Von Achim Wittich
Heidelberg. Wir erreichen Christian Henn am Montag gerade vorm Aufbruch in einen kurzen Nordsee-Urlaub. Der ehemalige Radprofi gewann 1988 bei den Olympischen Spielen in Seoul die Bronzemedaille und war ein unverzichtbarer Helfer für Jan Ullrich beim Team Telekom. Heute ist der Wieblinger als Sportlicher Berater für das Team Lotto Kern-Haus tätig, zu dem er gemeinsam mit Sohn Lucas 2016 wechselte. Natürlich verfolgt der 56-Jährige das dreiwöchige Tour-Spektakel mit großem Interesse und glaubt an den Gesamtsieg des slowenischen Favoriten Primoz Roglic.
Christian Henn, heute ist bei der Tour Ruhetag, da können sie ja in Ruhe die Koffer packen. Wie verfolgen Sie denn die diesjährige Frankreich-Rundfahrt?
Ich bin schon mehr oder weniger intensiv am Fernseher dabei. Es ist ja eine Tour, die sofort mit schweren Etappen angefangen hat und es ging in der ersten Woche gleich den Berg hoch. Das war früher nicht so.
Apropos früher: Ihr ehemaliger Telekom-Teamkollege Brian Holm findet, dass die heutige Fahrer-Generation in ihren High-Tech-Bussen und mit eigenen Köchen an ihrer Seite lasch und verwöhnt ist.
Ich habe es immer vermieden, die Zeiten zu vergleichen."Wir früher" gibt es für mich nicht.
Aber die Betreuung rund ums Rennen war doch wohl eine andere ...
Am Anfang meiner Karriere waren wir noch froh, wenn wir einen Camper hatten. Oft haben wir uns in unseren kleinen Autos am Straßenrand umgezogen. Dann erst kamen Wohnmobile und Köche (lacht).
Was hat sich denn bei der Tour speziell verändert?
Die Etappen sind kürzer geworden, das ist vielleicht auch gut so. Leider sind nicht nur bei der Frankreich-Rundfahrt, sondern ganz allgemein die Zielspurts genauso gefährlich wie zu meiner Zeit geblieben. Vielleicht sogar noch ein bisschen härter.
Kommen wir zur Tour 2020: Ist es richtig, dass überhaupt gefahren wird?
Das ist zugegebenermaßen eine schwere Frage. Mein Sportlerherz sagt "Ja, es ist gut, dass die Tour läuft." Aber es ist schon kritisch zu sehen, was die da machen.
Was meinen Sie konkret?
Es ist auffällig und sichtbar, dass sich nicht alle Zuschauer an die Maskenpflicht halten. Aber eine so große Masse ist eben leider nur schwer zu kontrollieren. Trotzdem wird das zu lasch gehandhabt.
Sportlich betrachtet hat die deutsche Hoffnung Emanuel Buchmann bereits nach der ersten Woche keine realistische Chance auf einen Podiumsplatz.
Am Anfang war noch eine Hoffnung da. Aber nun ist es eben so, wie es ist. Man muss sich jetzt neu motivieren und neue Ziele setzen. Emanuel ist ja kein Totalausfall. Sein Team sollte umplanen und auf einen Etappensieg fahren.
Die Spitzenfahrer sind im Klassement nur wenige Sekunden auseinander. Wer ist in Paris der Konkurrenz eine Radlänge voraus?
Ich tippe auf Primoz Roglic, der für mich den stärksten Eindruck macht. Sein slowenischer Landsmann Tadej Pogacar ist mit 21 Jahren einfach noch zu jung. Nairo Quintana hat mich positiv überrascht.
Und was macht der Sohnemann, sehen wir Luca einmal bei der Tour?
Luca hat seine ganz großen Ziele aufgegeben. Ein bisschen Geld verdienen geht im Profiradsport auch nicht. Er studiert Verfahrenstechnik.