Powerfrau: Die britsche Rekordhalterin und WM-Neunte Emily Campbell lässt am Samstag in Obrigheim die Hantel fliegen. Foto: S. Weindl
Von Roland Karle
Obrigheim. Elf deutsche Athleten und fünf ausländische Sportler, von denen jeweils maximal zwei pro Wettkampf startberechtigt sind, stehen im Kader des Gewichtheben-Bundesligisten SV Germania Obrigheim. So üppig das Aufgebot erscheint, so begrenzt ist die Zahl jener, die für den Wettkampf gegen den Berliner TSC am morgigen Samstag um 19.30 Uhr zur Verfügung stehen. "Die Mannschaft stellt sich fast von alleine auf", sagt Sportvorstand Manuel Noe, mehr stöhnend als La Paloma pfeifend.
Die Vermisstenliste ist lang: Nationalheber Nico Müller hat nach der WM gerade erst wieder mit dem Training begonnen, Matthäus Hofmann und Marius Oechsle sind verletzt, Yannick Staudt hat sich abgemeldet und Polizei-Student Adrian Müller, der beim 414,5:262-Sieg der 2. Mannschaft in Feldrennach mit 121 Punkten überzeugte, muss am Samstag arbeiten. Hinzukommt, dass vier der fünf internationalen Heber von ihrem Verband keine Freigabe erhalten oder nicht fit sind. "In der vorolympischen Saison sind gerade die Spitzenheber nicht immer verfügbar, damit müssen wir leben. Dass wir gleich zu Beginn auch einige Verletzte haben, ist natürlich schlecht", sagt Noe.
Not am Mann, doch Vorstand Kevin Ockert kann sein Wort halten. Foto: rol
Die Situation vor dem Bundesliga-Auftakt hat sich der Teamchef anders gewünscht, aber er will auch nicht lange darüber lamentieren. "Unsere Athleten werden sich am Samstag voll reinhängen. Am Ende geht’s darum, dass wir gewinnen - und wenn es nur ein Kilo mehr ist, das entscheidet."
Wer Zuversicht in der Statistik sucht, wird fündig: Dem Berliner TSC standen die Obrigheimer Gewichtheber seit 2013 sieben Mal in direkten Duellen (ohne DM-Finales mit drei Teams) gegenüber, die Bilanz mit sieben Siegen ist makellos. Die Heber aus der Hauptstadt haben bereits einen Wettkampf in der Runde 2019/20 absolviert: Vor zwei Wochen unterlagen sie dem Chemnitzer AC mit 737,2:784,2. Die meisten Punkte sammelten der Tscheche Petr Marecek (147,2), Leon Schedler (142) und Nationalheberin Patricia Rieger (129). Die hatte wegen einer Ellenbogenverletzung auf ihren Start bei der Weltmeisterschaft in Thailand verzichten müssen, meldete sich aber in der Bundesliga und vor einer Woche bei einem Olympia-Qualifikationskampf in San Marino überraschend schnell wieder zurück.
Mal sehen, ob sie auch in der Neckarhalle antritt, es wäre ihr dritter Wettkampf in zwei Wochen. Mit Rieger sowie Anne-Sophie König und der beim Saisonauftakt fehlenden Chantal Schreiber weist der Turn- und Sportklub Berlin eine überdurchschnittlich hohe Frauenquote in der Bundesliga auf.
Am Samstag steht der SV Obrigheim diesbezüglich kaum nach: Aus dem Oberliga-Team rückt Celina Schönsiegel auf. Die Ende September 17 Jahre jung gewordene Athletin feierte im Februar 2018 beim 745,2:518,8-Sieg in Pforzheim ihr Bundesliga-Debüt, es folgten drei weitere Einsätze in der ersten Mannschaft mit einer Bestleistung von 102 Punkten. "Ein Ergebnis in dieser Größenordnung traue ich Celina auch am Samstag zu", sagt Teamchef Noe über Schönsiegel, die von Daniel Pischzan (105 Bundesliga-Wettkämpfe für Obrigheim) trainiert wird.
Während das Obrigheimer Eigengewächs zur eher zierlichen Hebergarde zählt, bringt Emily Campbell mit 120 Kilo rund das Doppelte auf die Waage. Sie ist die stärkste Frau Großbritanniens und verbesserte im September bei der Weltmeisterschaft in Thailand die Landesrekorde im Superschwergewicht. Nach EM-Bronze im Frühjahr untermauerte die 25-Jährige durch den neunten Platz bei der WM ihre Chancen auf eine Olympia-Teilnahme 2020 in Tokio. Für den SV Obrigheim hebt die Superschwergewichtlerin seit der vergangenen Saison, beim KSV Durlach (141 Punkte) und gegen den TB Roding (149 Punkte) gelang ihr ein überzeugender Einstand.
Neben den beiden Frauen trauen sich zwei gestandene Hantelmänner und zwei Neuzugänge für den SV Obrigheim auf die Bühne. Angeführt wird das Team von Jakob Neufeld, der seinen 74. Bundesliga-Wettkampf für den dreimaligen deutschen Meister absolvieren wird. "Solange ich mit den Jungen mithalten kann, mache ich weiter", hatte der Ex-Nationalheber bei der Teamvorstellung auf dem Kiliansmarkt bekräftigt. Neun Tage nach dem Duell gegen Berlin feiert Neufeld seinen 36. Geburtstag. Dass er auf der Facebook-Seite der Obrigheimer Gewichtheber zum "Mannschaftsopa" erklärt wird, steckt der angehende Lehrer locker weg. Er will auch in dieser Saison "Spaß haben mit dieser tollen Truppe und möglichst weit vorne landen".
Sein nur etwas mehr als halb so alter Teamkamerad Ruben Hofmann war seit seiner 1. Mannschaft-Premiere im April 2017 - beim DM-Finale in Speyer - in 14 von 20 möglichen Bundesliga-Wettkämpfen dabei und gehört inzwischen zum Stammpersonal. Die interne Konkurrenz ist, wenn alle Heber fit sind, auch für ihn größer geworden. Denn um den Kader breiter aufzustellen und personell mehr Alternativen zu haben, verpflichtete der SV Obrigheim zur beginnenden Saison zwei Neuzugänge: Der 21-jährige Moritz Huber vom KSV Lörrach und Mohamed Hoblos (29) vom TuS Derne werden gegen Berlin das erste Mal das Obrigheimer Trikot tragen.
Darüber wird sich auch der für Wirtschaft und Organisation zuständige Vorstand Kevin Ockert freuen. Aus zwei Gründen: Erstens weil die eigene Mannschaft dadurch an Qualität gewonnen hat. "Wir wollen uns auch in der neuen eingleisigen Bundesliga oben behaupten", sagt er. Zweitens weil ihm selbst ein Rollentausch erspart bleibt: In der vorletzten Saison sprang Ockert in Schifferstadt wegen Personalnot kurzfristig ein und gab ein ungeplantes Bundesliga-Comeback. "Das war eine einmalige Sache", betonte er bei der Teampräsentation. Nun ist schon wieder Not am Mann, doch Sportchef Noe hat von einer Nominierung seines Vorstandskollegen abgesehen. Gut für Kevin Ockert: Er muss also nicht die Hantel, sondern kann sein Wort halten.