Mit Schüssen in Wiesenbach begann der Kampf gegen den Terror
Im Jahr 1971 wurden Polizisten angegriffen. Die daraus folgenden Ermittlungen brachten das SPK zu Fall.

Von Lukas Werthenbach
Wiesenbach. Schüsse aus mindestens einer Pistole erschüttern die frühmorgendliche Landidylle mitten im beschaulichen Wiesenbach an diesem 24. Juni 1971. Eine Kugel durchschlägt die Schulter eines Bammentaler Polizisten, er bricht kurz darauf zusammen und verliert viel Blut – doch er überlebt. Was in den Stunden, Tagen und Wochen danach folgt, ahnt damals niemand.
Dieser bis heute nicht vollständig aufgeklärte und nur wenig bekannte "Fall Wiesenbach" löst umfangreiche Ermittlungen aus, sorgt später für das Ende des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg (SPK). Der Fall markiert einen Meilenstein im Kampf des Rechtsstaats gegen den bundesweit agierenden Linksterrorismus der 1970er Jahre. Es stellt sich auch heraus, dass im angemieteten Haus des berüchtigten SPK-Chefs und Arztes Wolfgang Huber in der Straße "Schloßberg" spätere Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) ein und aus gingen: Hier plante man eine bewaffnete Revolution.

Im Gasthaus "Zum Stehwagen" brennt längst kein Licht mehr, als davor auf der Hauptstraße gegen 3.15 Uhr am Morgen zwei Streifenpolizisten einen hell-beigen Ford Taunus 17 M mit Stuttgarter Kennzeichen anhalten. Der Fahrer weist sich – wie sich später herausstellt – mit gefälschten Papieren aus. Als die Beamten ihn auffordern, den Kofferraum zu öffnen, ergreift er die Flucht. Einer der Polizisten rennt hinterher, plötzlich fallen zwei Schüsse: Ein Heckenschütze hatte sich hinter den parallel zur Straße gepflanzten Sträuchern versteckt, direkt neben dem Gasthaus. Der getroffene Beamte "konnte den Schuss noch erwidern und schleppte sich zum Streifenwagen zurück", berichtet die RNZ am Tag danach. Sein Polizeikollege schlägt über Funk Alarm und versorgt den verletzten Polizeihauptmeister, den eingangs erwähnten Bammentaler. Noch in der Nacht wird eine Großfahndung nach den Tätern aufgenommen. Augenzeugen, die von den Schüssen geweckt wurden, berichten von mindestens zwei flüchtenden Personen. Noch heute zeugt ein Einschussloch in einem Scheunentor an der Hauptstraße von der Tat.
Nach gut zwei Stunden wird die Fahndung ausgeweitet, Polizeihubschrauber und Spürhunde kommen zum Einsatz. "Nach Augenzeugenberichten soll mindestens ein Täter in den ,Herrenwald’ in Richtung Neckargemünd und einer in den ,Judenwald’ in Richtung Lobenfeld / Mönchzell geflüchtet sein", schreibt die RNZ damals. Beide Waldgebiete werden umstellt und durchkämmt.
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Gegen 8.15 Uhr ein erster Erfolg: An der Kreisstraße zwischen Wiesenbach und Neckargemünd wird ein junger Mann beobachtet, der per Anhalter mitgenommen werden will. Die Polizei nimmt ihn fest. "Der Verdächtige machte weder zu seiner Person noch zur Sache irgendwelche Aussagen", heißt es.

Heute weiß man, dass es sich bei diesem Mann um Alfred Mährländer handelte. Unter anderem gehörte er der West-Berliner Vereinigung "Bewegung 2. Juni" an, die als linksextrem und terroristisch galt. Er unternahm in jener Nacht offenbar eine "Logistikfahrt" zur Wohnung des SPK-Chefs Wolfgang Huber, wie folgende Ermittlungen ergeben.
In der RNZ vom 29. September 1971 ist von einer "Gegenüberstellung am Tatort" zu lesen, bei der der hühnenhafte Mährländer und der drei Monate zuvor getroffene Polizist bei "in etwa gleichen Lichtverhältnissen" wie am frühen Morgen des 24. Juni in Wiesenbach zusammenkommen. Doch der Vor-Ort-Termin kann den Verdacht gegen Mährländer offenbar nicht wirksam erhärten: Er wird später zwar wegen versuchten Mordes an dem Polizisten angeklagt, nachgewiesen wird ihm aber lediglich Dokumentenfälschung.
In dem Ford wird kurz nach der Tat ein geladener Revolver "Smith & Wesson" gefunden. Auch hier offenbaren sich Verbindungen ins linksextremistische Milieu: Die Waffe wurde von einem Alois Aschenbrenner gekauft, der in München der Stadtguerilla-Gruppe "Südfront" angehörte. Das berichtet Bernd Fuchs, früher Heidelberger Polizeichef und heute Chefredakteur der Fachzeitschrift "Kriminalistik" in ebendieser.
Und Huber, der SPD-Arzt? Er wird gleich nach den Schüssen von Nachbarn gesehen: Demnach sprang er über einen Zaun und verschwand im dahinterliegenden Haus, in dem er wohnte. Laut "Kriminalistik" überließ Huber sein eigenes Auto dem Täter für dessen weitere Flucht. Demnach wird bei ihm auch eine Aluminiumfolie gefunden, die für die Fälschung des am Ford zurückgelassenen Führerscheins verwendet wurde.

Gut einen Monat später wird der Arzt verhaftet. Er und seine Frau Ursula werden unter anderem wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und wegen Sprengstoffherstellung zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Auch weitere SPK-Mitglieder kommen vor Gericht.
Unterdessen gibt es zahlreiche Wohnungsdurchsuchungen in Heidelberg, bei denen Waffen und Sprengstoff gefunden wurden. Darunter ist auch eine Pistole, die bei einem Banküberfall des damals noch "Baader-Meinhof-Bande" genannten RAF-Vorläufers im Januar 1971 in Kassel benutzt wurde.
Zudem wird bekannt, dass sich der "Innere Kreis" des SPK stets mittwochs bei Huber in Wiesenbach traf. Hier ging es um Spionagetechniken, Waffenausrüstung und den Austausch über anti-autoritäre sowie linksrevolutionäre Ansichten. Mitglieder des "Inneren Kreises" waren unter anderem die späteren RAF-Mitglieder Axel Achterrath, Carmen Roll und Siegfried Hausner. Hausner wurde 1975 bei der Geiselnahme in der Stockholmer Botschaft getötet.
Der Wiesenbacher Heckenschütze wurde übrigens nie gefasst. Jedenfalls wurde bis heute niemand wegen der Schüsse verurteilt.
Info: Wer weiß noch mehr zum "Fall Wiesenbach"? Die RNZ sucht Menschen, die etwas zu den Vorkommnissen rund um den 24. Juni 1971 beitragen können oder sogar an den anschließenden Ermittlungen beteiligt waren. Senden Sie uns eine E-Mail an region-heidelberg@rnz.de