"Wir müssen schauen, dass wir Kinder nicht weiter benachteiligen"
Karsten Rudolf ist Ärztlicher Direktor der Diakonie-Klinik Mosbach und berichtet im RNZ-Interview, wie die Corona-Krise Familien fordert.

Von Stephanie Kern
Neckar-Odenwald-Kreis. "Alles, was bisher vertraut war, ist jetzt anders." Mit diesem einen Satz fasst Dr. Karsten Rudolf zusammen, welche Wirkung die Coronapandemie und die Lockdown-Maßnahmen auf die Menschen haben. Besonders in den Blick nimmt Rudolf aber von Berufs wegen Kinder und Jugendliche: Er ist Ärztlicher Direktor der Diakonie-Klinik Mosbach und Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie innerhalb der Klinik. Der 54-Jährige berichtet im RNZ-Interview über seine Erfahrungen der vergangenen Monate, beschreibt, was Kinder anfällig für psychische Erkrankungen macht und welche wichtige Aufgabe den Eltern aktuell zukommt.
Laut der Copsy-Studie fühlten sich 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen vor allem durch die Kontaktbeschränkungen belastet. Zudem fand die Studie heraus: Es gab in Familien mehr Streit, dieser eskalierte häufiger, und es gab eine Verschlechterung der Beziehung zwischen Jugendlichen und ihren Freunden sowie ihrer Familie. Wie bewerten Sie diese Zahlen?
Das muss man erst einmal als subjektive Einschätzungen des psychischen Befindens und der sozialen Kontexte bewerten. Diese Ergebnisse bedeuten nicht zwangsläufig, dass es Langzeitschäden bei Kindern und Jugendlichen geben wird. Was spannend sein wird, und das müssen Langzeitstudien uns zeigen: Welche Spuren hinterlassen Pandemie und die vielfältigen getroffenen Maßnahmen? Dass es größere Belastungen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien gibt, zeigt sich auch im Klinikalltag. Man muss aber auch zum Ausdruck bringen: Diese Pandemie war für alle eine Belastung – und ist es immer noch.

Was macht die Situation denn so belastend für Kinder und Jugendliche?
Auch interessant
Es ist ein ganzes Bündel an Wahrnehmungen, Emotionen, Erleben und Verarbeiten: Da ist ein neues Virus, und das verursacht Ängste, Unsicherheiten, Befürchtungen, die durch die mediale Präsenz verstärkt werden. Und dann entwickeln Kinder und Jugendliche eben auch große Ängste. Sie hoffen, dass sich niemand aus der Familie infiziert; sie erleben wirtschaftliche Sorgen durch die Kurzarbeit der Eltern; die Schule ist mal geschlossen, mal offen – und das dann wieder nicht dauerhaft. Die Coronapandemie wirkt wie ein Brennglas auf gesellschaftliche Entwicklungen und Defizite. Man muss ehrlich sagen: Vieles gelingt, aber nicht alles. Wir müssen aber schauen, dass wir die Kinder nicht weiter benachteiligen.
Welche Kinder und Jugendlichen sind denn besonders gefährdet?
Die Kinder und Jugendlichen, die ohnehin schon vulnerabel sind: Diejenigen, die vielleicht lernschwach sind, die beengt leben, deren Eltern eine psychische Krankheit haben, Kinder, die selbst eine psychische Vorerkrankung haben, Familien, die Kinder mit Behinderung betreuen müssen – auf die müssen wir jetzt besonders achten und sie vielfältig unterstützen.
Und was sagen die Kinder und Jugendlichen selbst, was belastet sie am meisten?
Es fehlen die Freunde, es fehlt, sich verabreden zu können. Das Homeschooling ist kein Vergleich zum Unterricht im Klassenzimmer, wo man mit Lehrern direkt in Kontakt treten kann, wo die Klassenkameraden um einen herum sind. All diese sozialen Aspekte fehlen, und das ist die eigentliche Wucht der Pandemie. Wir sind soziale Wesen. Unsere Gesundheit, unsere Lebensqualität und unser Erleben einer sinnhaften Lebensgestaltung spielen sich im sozialen Austausch ab.
Erleben Sie, dass mehr Kinder und Jugendliche von psychischen Problemen betroffen sind, oder werden die Fälle, die bei Ihnen aufschlagen, schlimmer?
Viele Symptome bezüglich psychischer Auffälligkeiten haben sich verstärkt. So hat sich das Risiko, psychisch zu erkranken, bei Kindern und Jugendlichen in der Pandemie von zuvor 18 % auf 30 % deutlich erhöht. 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen geben an, eine verminderte Lebensqualität zu haben. Das waren vorher 15 Prozent. 40 Prozent bewegen sich weniger, und bei der häuslichen Gewalt haben wir einen Anstieg um sieben Prozent. Deutlich vermehrt angegeben werden Gereiztheit, Niedergeschlagenheit, Kopf- und Bauchschmerzen, Einschlafprobleme. Bei jungen Kindern werden von den Eltern mehr Verhaltensprobleme, emotionale Symptome und Hyperaktivität beschrieben. Familien mit behinderten Kindern berichten durch den Wegfall von Therapie- und Pflegeangeboten ein Gefühl des Alleingelassenseins.
Wir müssen schauen, ob diese Phänomene abebben, oder ob das nachhaltige Spuren hinterlässt. Bei den Risikogruppen gehen wir davon aus, dass sie ein höheres Risiko haben, dass diese Zeit nachhaltige negative Folgen hinterlässt. Hinzu kommen die Bildungslücken, die durch die Schulschließungen entstanden sind. Deshalb ist das nun von der Bundesregierung aufgelegte Aktionsprogramm "Aufholen nach Corona" wichtig. Aber ich wünsche mir, dass es fortgeführt wird. Wir brauchen langfristige Investitionen in Bildung und Gesundheit.
Und gibt es mehr Familien, mehr Kinder und Jugendliche, die Ihre professionelle Hilfe brauchen?
Wir rechnen damit, dass die psychosozialen Folgen mit einer gewissen Zeitverschiebung noch intensiver auf uns Professionelle zukommen. Da müssen wir gewappnet sein. Wir merken aber jetzt schon eine Zunahme an Anrufen und Fällen in unserer Notaufnahme. Und die, die kommen, sind schwerer betroffen. Ich vermute, dass vieles sich im sozial isolierten Raum abspielt, von dem wir erst später erfahren werden.
Gibt es denn auch Kinder und Jugendliche, die gut mit der Situation umgehen können?
Wir sehen, dass bei den Kindern und Jugendlichen, die eine optimistische Grundhaltung haben, die gut im Kontakt sind mit ihren Eltern, wo die Ängste Gehör finden, wo es in der Familie auch Ideen gibt, wo etwas getan wird, es auch weniger psychosoziale Probleme gibt. Kinder sind doch sehr abhängig von ihren Eltern, deren Gesundheit und Ressourcen. Und die sind auch gefordert: Sie müssen erklären, aber vor zu viel Panik schützen. Jugendliche erfassen aufgrund ihrer Reife schon viel mehr und informieren sich auch selbst. Dafür erleben sie die Ungewissheit und auch Ernsthaftigkeit der Situation mit den unmittelbaren Auswirkungen auf ihr Leben sowie eigene Perspektive viel bewusster. Um damit umgehen zu können, kommt es auf die persönlichen Ressourcen und die Umfeldbedingungen an. Das Schwierige ist, dass diese Pandemie für alle neu ist. Wir lernen unheimlich viel und schnell. Es gibt aber auch Unwägbarkeiten. Keiner kann einem Kind sagen, wann es zu Ende ist. Mit solchen Ungewissheiten kann der Mensch eher schlecht umgehen.
Was muss auf der politischen Ebene passieren?
Die große Frage ist doch, was wir aus der Pandemie in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und für uns alle in der sozialen Gemeinschaft lernen. Ich bin kein Politiker und maße mir nicht an, nun das "goldene Rezept der Lösungen" auszustellen. Corona-Pandemielage ist viel mehr als nur das Virus, Covid-19 und eine rein medizinische Betrachtungsweise. Das von der Weltgesundheitsorganisation publizierte "One-Health-Concept" verdeutlicht die enge Verwobenheit und Integration des Menschen mit seiner pflanzlichen und tierischen Umwelt, seiner Gesundheit, dem Klima in dieser globalisierten Welt. Beispielsweise das zivilisatorische Vordringen in immer entlegenere Räume unseres Globus führt dazu, dass der Mensch mit Erregern in Kontakt kommt, für die er nicht gewappnet ist.
Und was kann und sollte man dann ganz konkret aus dieser Pandemie lernen?
Es bedarf gesellschaftlicher, politischer Konzepte und Prozesse, die diese engen Zusammenhänge und Abhängigkeiten berücksichtigen. Wir müssen in das Gesundheits- und Bildungswesen, die Infrastruktur, eine breite Digitalisierung investieren. Wir müssen gesellschaftlich bei den Risikogruppen genau hinsehen und Förderprogramme etablieren. Ein deutliches Abspecken der Bürokratie, eine Wertschätzung und Förderung des Regionalen, Lokalen und neuen sozialen Miteinanders (statt einer Inflation sich überbietender Events) sind ebenso nahe liegende Forderungen. Es ist erwiesen, dass Bildungserfolg und psychische Gesundheit zusammenhängen. Wir müssen investieren, um die Förderbedürftigen mitzunehmen. Und ich hoffe, dass es die Lernerfahrung gibt, dass wir in künftigen Pandemien nicht nur die Expertise von Virologen, sondern auch vielen weiteren Professionen brauchen. Dazu gehört auch, dass wir im Nachhinein eine gründliche Forschung der Pandemie betreiben – in allen Disziplinen.
Und was können Familien tun, um sich und ihre Kinder zu stärken, um stark durch diese noch andauernde Situation zu kommen?
Kinder und Jugendliche brauchen ein gutes soziales Netzwerk. Sie sollten es trotz der Kontaktbeschränkungen schaffen, regelmäßigen sozialen Kontakt zu Freunden und Familie zu haben. Die Eltern sollten den Kindern nah sein, sollten ansprechbar sein. Sie haben die herausfordernde Aufgabe, ihre Kinder zu informieren, diese Informationen aber auch angemessen zu filtern, altersentsprechend zu übersetzen und ein "Dauerfeuer" zu verhindern. Es wird auch mehr Kinder geben, die wieder Einschlafbegleitung, Trost und körperliche Nähe brauchen. Auch bei der Mediennutzung sollten die Eltern nah dran sein und ihren Kindern vielleicht auch erklären, wie Medien Konzepte stricken, um interessant zu sein. Gerade bei Jugendlichen geht es als Eltern darum, offen zu sein und vielleicht auch mal zu sagen: "Ich habe darauf gerade selbst keine gute Antwort. Und trotzdem können wir das Beste aus der Situation machen. Lass uns Ideen sammeln."
Was ist mit der Freizeit? Wie kann man die gestalten? Haben Sie Ratschläge?
Bereits in der ersten Pandemiewelle hatten wir "Corona-Hilfspakete" für junge Menschen und ihre Familien konzipiert. Die waren bepackt mit therapeutischen Impulsen und Vorschlägen zur Aktivierung und Tagesgestaltung. Was vielen Familien hilft, ist Struktur, etwa durch Tages- und Wochenpläne sowie Rituale und Aufgaben. Wir konnten häufig bemerken, dass in der Stadt die Beschränkungen doch sehr viel begrenzender als im ländlichen Raum wahrgenommen werden. Aktivierung und Bewegung sind enorm wichtig. Man sollte so viel wie möglich rausgehen, sich bewegen, vielleicht ein gemeinsames Familienprojekt im Garten starten. Da ist die Kreativität der Eltern gefragt, die auch wiederholt die schönen Momente im Alltag und des Lebens betonen sollten. Sich in der Familie wertschätzen und sich gegenseitig loben, dies ist in diesen Zeiten wichtiger denn je.



