Eine Familie erzählt von ihrem schweren Corona-Schicksal
Die RNZ sprach mit einer Familie, die ein geliebtes Familienmitglied verloren hat - "Wir haben das Coronavirus kennengelernt"

Von Stephanie Kern
Neckar-Odenwald-Kreis. Eins vorweg: In diesem Artikel stimmt nur ein Name, denn die Familie, um die es hier geht, ist zwar bereit, ihre Geschichte zu erzählen. Sie möchte aber nicht erkannt werden. Nur einer konnte seine Geschichte nicht mehr selbst erzählen, er hieß Philipp. Am 25. Januar starb Philipp im Mosbacher Krankenhaus – an Covid-19.
Auch nach drei Monaten ist das für die Tochter des Verstorbenen – wir nennen sie hier Maria Reibold – ein Verlust, der wehtut. "Meine Eltern leben nebenan", erzählt die Frau, die in einer kleinen Gemeinde im Neckar-Odenwald-Kreis zu Hause ist. Eigentlich wollte auch ihre Mutter an dem Gespräch teilnehmen. "Aber es geht heute nicht. Sie fängt langsam an, es zu verarbeiten."
Der Vater sei ein "sehr lieber und wahnsinnig geduldiger Mensch" gewesen, sagt Maria Reibold. 63 Jahre waren die Eltern verheiratet. "Meine Eltern haben eine sehr gute Ehe geführt." Auch nach all der Zeit gab es noch Küsschen, nannte man sich "Schatzi". Zur diamantenen Hochzeit schenkte die Tochter den Eltern eine Hochzeitstorte, denn zum eigentlichen Hochzeitstag hatte sich das Paar das nicht gegönnt.
Wenn Maria Reibold davon erzählt, zeigt sie auf dem Handy Fotos ihrer Eltern, ihres Vaters. Ein fröhlicher Mann ist darauf zu sehen. Einer, der sich den Teller mit Kuchen und Torte vollmacht und über das ganze Gesicht strahlt. Man sieht auch einen Mann, der wach im Geist ist. "Ja, mein Vater hatte Vorerkrankungen, er hatte eine Herzschwäche." Regelmäßig musste er zur Dialyse. "Aber er hätte bestimmt noch ein paar Jahre leben können."
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Als es im März 2020 ernst wurde mit dem Coronavirus in Deutschland, wurde Maria Reibold vorsichtig. Sie ist selbstständig, bat ihre Kunden um Rücksicht – denn sie war auch diejenige, die die Pflege des Vaters übernommen hatte. "Ich habe da auch Kunden verloren. Aber ich hatte so eine Angst, dass ich meinen Vater anstecken könnte."
An einem Sonntag im Januar 2021 waren Sohn und Schwiegertochter der Reibolds zu Besuch. Sie wollten auch dem Großvater einen kurzen Besuch abstatten. "Ohne Maske, das war unvernünftig", sagt die Frau heute. Wer wen angesteckt hat, das lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Der Vater sagte aber schon an diesem Tag, er habe Halskratzen. Am 13. Januar hatte die Familie Gewissheit: Philipp hat sich mit dem Coronavirus infiziert. Auch die Mutter, der Sohn, die Schwiegertochter, der Ehemann und Maria Reibold wurden positiv getestet.
Bei jedem verlief die Krankheit anders. Maria Reibold hatte sehr leichte Symptome, die Mutter bekam kaum Luft, die Schwiegertochter schaffte es kaum von der Couch ins Bad. Dem Vater ging es eigentlich gut. Bis zum 20. Januar. Da habe er schlagartig keine Luft mehr bekommen. Der Rettungswagen wurde gerufen. Als der Vater stabil war, musste ein Krankenhausbett gefunden werden. Nach mehreren Telefonaten konnte er in den Plattenwald gebracht werden, einen Tag später wurde er nach Mosbach verlegt. Die Familie hielt den Kontakt zu Philipp, am Telefon.
"Sonntags wurde ich unruhig", erzählt Maria Reibold. Mehrmals habe sie auf der Station angerufen. Nach langem Bitten durfte sie ihren Vater besuchen. In Vollschutz natürlich. "Ich war so unendlich dankbar, dass mir das erlaubt wurde", sagt Reibold. Sie hat Tränen in den Augen. Man merkt, dass jetzt der schwerste Teil dieser Erzählung kommt.
Eine halbe Stunde hat Reibold mit ihrem Vater verbracht, ihm die Hand gehalten, mit ihm einen Joghurt gegessen. Er sagte dann zum Abschied, dass ihn jetzt niemand mehr anrufen soll. "Und er hat zum ersten Mal gesagt, dass er nicht mehr kann. Zum ersten Mal", erzählt Maria Reibold. Nachts um 2.30 Uhr klingelte dann das Telefon. "Meine Mutter schrie nur." Sie hatte eben erfahren, dass ihr Mann gestorben war.
Die Familie hätte noch ins Krankenhaus kommen können, um sich zu verabschieden. Eine Stunde ist das Zeitfenster dafür geöffnet. "Aber meine Mutter war nicht in der Verfassung, man konnte sie nicht alleine lassen, ich wollte auch nicht alleine ins Krankenhaus fahren." Normalerweise werden Verstorbene in der Leichenhalle aufgebahrt, man kann dort Abschied nehmen. Bei Menschen, die am Coronavirus sterben, ist das nicht so. "Der Abschluss fehlt uns."
Bei der Beerdigung habe Maria Reibold immer wieder die Urne angesehen, sich gesagt, dass darin nun ihr Vater ist. "Ich habe es einfach nicht realisieren können." Für Maria Reibold ist das Leben ihres Vaters näher als sein Tod. Auch jetzt noch. "Mein Vater hat gerne gelebt, er war hellwach im Kopf, man konnte sich mit ihm unterhalten, er war fröhlich."
Wenn Maria Reibold mit Corona-Skeptikern spricht, mit Menschen, die das Virus als Grippe abtun, dann sagt sie oft: "Du brauchst mir nichts über das Coronavirus erzählen, wir haben es kennengelernt. Und einer fehlt seitdem." Auch ihr 30-jähriger Sohn hatte einen schweren Verlauf. "Diese Krankheit kann tödlich verlaufen. Da fehlt ein Mensch, ein Vater, ein Ehemann, ein Großvater", sagt Maria Reibold. Auch die, die das Virus überstanden haben, leiden unter den Folgen der Erkrankung. Auch Maria Reibold ist nicht mehr die Gleiche wie vorher. "Mein Vater ist gestorben, er fehlt brutal."
Dass ein 82-Jähriger mit Herzproblemen nicht ewig lebt, das wusste auch Maria Reibold. "Aber ich wollte im Moment seines Todes da sein, meinem Papa die Hand halten." Wenn sie am 24. Januar nicht so unruhig gewesen wäre, hätte sie ihren Vater nie mehr gesehen. So wie die Mutter, die sich nach 63 Jahren Ehe nicht von ihrem Mann verabschieden konnte. Sie hat ihn zum letzten Mal gesehen, als er mit dem Krankenwagen in die Klinik gebracht wurde.
Nach dem Tod von Philipp bekam die Familie sein Handy zurück. Es war kaputt, es muss heruntergefallen sein. "Dabei weiß ich sicher, dass es noch intakt war, als ich ging. Ich habe es auf seinen Nachttisch gelegt." Eine Frage beschäftigt die Frau seitdem unentwegt: "Hatte er Angst? Wollte er uns noch mal anrufen? Hatte er Panik?" Philipp war 82 Jahre alt. Im Moment seines Todes war seine Familie nicht bei ihm. Im Moment der Trauer konnte seine Familie nicht abschließen.
In diesem Artikel stimmt mehr als nur ein Name. Die Geschichte, die hier erzählt wurde, stimmt auch. Maria Reibold will es betonen, weil es (ihr) wichtig ist: "Mein Vater ist am Coronavirus gestorben. Er hätte bestimmt noch weiterleben können. Er fehlt uns brutal."



