Sind Kinder heute weniger schulreif?
Kindergärten und Schulen geschlossen, ausgefallene Untersuchungen und Therapien: Zwischen Vision und Fachkräftemangel.

Von Stephanie Kern
Neckar-Odenwald-Kreis. "Die Schließung der Spielplätze war ein Fehler." Das sagt die Ministerpräsidentin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, heute. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach geht sogar noch einen Schritt weiter: Für ihn waren die Schul- und in großen Teilen auch die Kindergartenschließungen im Pandemie-Winter 2021/22 ebenso ein Fehler. Die Leidtragenden waren: die Kinder.
Die füllen die Schulen nun wieder mit Leben. Zum Beispiel die Mosbacher Waldstadt-Grundschule. Marianne Soult ist hier die Schulleiterin, Nadin Müller als Grundschullehrerin auch für die Kooperation mit den Vorschulkindern zuständig. "Wir haben optimale Rahmenbedingungen, um unsere Vision von Vorschule und Kooperation zu ermöglichen", sagt Soult. Bedingungen, wie sie kaum eine Grundschule hat: In der Waldstadt gibt es nur einen Kindergarten, die Wege sind kurz, man kennt sich, und auch die Erzieher im Kindergarten sind bei der Vorbereitung auf die Schule mit im Boot.
Einmal in der Woche ist Nadin Müller im Kindergarten zu Gast, arbeitet mit den Vorschulkindern. Vom Ministerium bekommen die Grundschulen dafür zwar eine Deputatsstunde. Aber es ist vor allem dem Engagement der Kooperationslehrerin und des Kindergartens zu verdanken, dass die Kooperation so "wunderbar" (Soult) gelebt werden kann.
Extra-Einsatz hat sich gelohnt
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Während coronabedingt andere Erstklässler, die 2021 eingeschult wurden, ihre Schule vielleicht erst am ersten Schultag (!) zu Gesicht bekamen, wurden die Waldstadt-Vorschüler auf ihrem Weg zum Schulkind-Sein seitens der Schule immer wieder an die Hand genommen. Das Schulhaus war zwar geschlossen, Müller verteilte aber Arbeitshefte und Belohnungen an die Vorschulkinder. Und die Anmeldung fand ganz persönlich im Schulgarten statt. "Das war natürlich sehr zeitintensiv, aber auch irgendwie besonders, und wir hatten intensive Kennenlern-Gespräche. Diese Zeit für jedes einzelne Kind und seine Eltern hat sich für uns alle gelohnt", berichtet Soult. "Und die Kinder hatten so natürlich zum Schuleschnuppern eine Lehrerin ganz für sich alleine."
Auch die Einschulungsfeier fand draußen statt. So konnten dann auch die Erzieher aus dem Kindergarten dabei sein. "Das ist eigentlich ein Sinnbild für unsere Kooperation: Am Tag der Einschulung begleiten die Erzieher die ehemaligen Kindergartenkinder und sind dabei", berichtet Soult. Etwas Besonderes, die Waldstadt-Vision eben.
Damit man Defizite bei Vorschulkindern erkennen könne, müsse man die Kinder regelmäßig sehen, meint Nadin Müller. Und da kommt zur Waldstadt-Vision die Waldstadt-Situation: Müller betreut, anders als andere Kooperationslehrerinnen, einen einzigen Kindergarten. Bei anderen sind es mehr: Wer Kooperationen in zwei, drei oder vier Kindergärten machen muss, der kann die Kinder gar nicht so kennenlernen, wie Müller das tut. "Man muss aber natürlich sagen: Die wahren Fachleute für die Kindergartenkinder sind die Erzieher und die Eltern", betont Müller. "Ich bin lediglich das Sahnehäubchen, das den Start in die Schule versüßt und vereinfacht!"
Und damit spricht sie etwas an, das viele Erzieherinnen und Erzieher besonders in der Pandemie belastet hat. Im Januar 2021 sprach eine Erzieherin aus der Region das offen an. Susanne Rau hat sich vor etwa 30 Jahren für diesen Beruf entschieden, machte eine Ausbildung und qualifizierte sich weiter. Seitdem habe sie erlebt, wie der Beruf langsam ("sehr langsam") mehr Anerkennung bekam, wie Kindergärten nicht mehr nur als Verwahrstation, sondern als Orte der frühkindlichen Bildung wahrgenommen wurden. "Seit März 2020 wird das aber alles weggewischt. Ich fühle mich wie in die Steinzeit zurückversetzt", sagte Susanne Rau damals.
Viele Untersuchungen ausgefallen
Und heute? Fiele ihr Urteil wohl nicht viel milder aus! Auf dem Ausrufezeichen besteht sie hier. "Ich fühle mich von sehr vielen im Stich gelassen, an erster Stelle natürlich von der Politik", sagte Rau im Januar 2021. Auch das würde sie wohl heute noch unterschreiben. Denn ganz objektiv gesehen, wird es an den Orten der frühkindlichen Bildung immer brenzliger. Erzieherinnen und Erzieher sind Mangelware. Sie sind so begehrt, dass die Einrichtungen sie sich gegenseitig abwerben, sich bei den Arbeitsbedingungen überbieten. Öffentlich würde das natürlich keine Einrichtungsleiterin zugeben. Inoffiziell ist es gang und gäbe.
Um den Personalnotstand abzufedern, gibt es neue Regelungen: Eingestellt werden dürfen nun alle Quereinsteiger, und pro Gruppe muss es nur noch eine Fachkraft geben. An der bleiben dann alle Aufgaben hängen, die nur eine Fachkraft machen kann. Elterngespräche zum Beispiel. Oder der Vorschultreff.
Auch Einschulungsuntersuchungen fielen (nicht nur) im Neckar-Odenwald-Kreis reihenweise aus. Auf Anfrage der RNZ erklärt Jan Egenberger, Pressesprecher des Landratsamts: "Während der Einschulungsjahrgang 2020 noch fast vollständig untersucht werden konnte, konnte der Einschulungsjahrgang 2021 pandemiebedingt schon nicht mehr flächendeckend untersucht werden." Zuständig für die Untersuchungen ist das Gesundheitsamt, und das war während der Pandemie – man ahnt es – mit der Pandemie beschäftigt. "Es fiel für circa ein Drittel die Einschulungsuntersuchung aus." Gegen Ende des Jahres 2021 habe man für den Einschulungsjahrgang 2023 die Untersuchungen unter Pandemiebedingungen wieder aufgenommen und im Laufe des Jahres 2022 deutlich ausgeweitet. Im Oktober 2022 starteten zudem bereits regulär die Untersuchungen des Einschulungsjahrgangs 2024, heißt es.
Ob die Schließungen und Lockdowns Spuren bei den Kindern hinterlassen und Einfluss auf deren Schulreife haben, kann das Gesundheitsamt "noch nicht aussagekräftig" beantworten. "Durch die ausgefallenen Einschulungsuntersuchungen bestand die Vereinbarung mit den Kindergärten, dass bei diesen Kindern in jedem Fall eine Schritt-2-Beurteilung erfolgen soll. Somit bestand und besteht insgesamt eine höhere Eingangsmeldung an Schritt-2-Kindern." Das bedeute aber nicht unbedingt eine Auffälligkeit. Egenberger: "Eine Differenzierung ist somit vorerst nicht möglich, da die Bearbeitungen noch andauern."
Dass die Untersuchungen dem Druck der Pandemie nachgeben mussten, ist beim vorhandenen Personalschlüssel nicht verwunderlich: "Das Team des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes umfasst im Stellenanteil ungefähr drei Sozialmedizinische Angestellte und insgesamt eine Arztkraft", erklärt der Pressesprecher des Landratsamts.
Keine dramatischen Veränderungen
Kinder werden aber auch außerhalb von Einrichtungen gefördert, in Praxen für Ergotherapie zum Beispiel. Auf einen Therapieplatz warten Kinder (ähnlich wie bei Logopädie) aktuell etwa drei Monate oder auch länger. Helen Hofmann ist Ergotherapeutin in Haßmersheim. Mehr Bedarf sieht sie bei den Vorschulkindern nicht, zumindest nicht mehr als vor der Pandemie. Meist zeigen sich die Probleme erst, wenn das Kind eingeschult wurde, sich nicht konzentrieren oder Probleme mit dem Schriftbild hat. "Aber das ist nicht dramatisch mehr geworden", meint Hofmann. Genau so individuell wie die Therapie selbst ist auch die Dauer. "Aber die wenigsten Kinder schaffen es unter sechs Rezepten." Im Sozialverhalten sieht sie aber deutliche Folgen der Pandemie und der vielen Schließungen.
Im Frühsommer 2021 gab es übrigens einen gemeinsamen Bericht des Bundesgesundheits- und des Familienministeriums. "Durch die Veränderung der Alltagsstruktur (Schul- und Kitaschließungen) und die Kontaktbeschränkungen können bei Kindern und Jugendlichen unter anderem Zukunftsängste, Leistungsdruck und Vereinsamung zunehmen. Die mangelnde soziale Interaktion mit Gleichaltrigen, übermäßiger Medienkonsum, Bewegungsmangel und Fehlernährung während der Pandemie stellen ein Risiko für die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen dar", heißt es in diesem. Vorgestellt wurde dieser Bericht in der Kabinettssitzung. Unter dem TOP "Verschiedenes".