Neckar-Odenwald-Kreis

Jugendarbeiter sorgen sich um soziale Kompetenzen

Kindern und Jugendlichen fehlt derzeit der soziale Ausgleich - "Soziale Kompetenz lässt sich nicht am Bildschirm vermitteln"

06.05.2021 UPDATE: 07.05.2021 06:00 Uhr 2 Minuten, 55 Sekunden
Ein Zeltlager wie das der KjG Hardheim im Jahr 2017 in Unterwurmbach ist derzeit kaum denkbar. Dabei ist es für Kinder und Jugendliche enorm wichtig, unter ihresgleichen zu sein, sich auszuprobieren und soziale Kompetenzen zu erlangen. Archivfoto: Marcus Wildner

Von Noemi Girgla

Neckar-Odenwald-Kreis. Schulen auf, Schulen zu, Fernunterricht, Homeschooling, Notbetreuung – bei zahlreichen Eltern liegen die Nerven blank. Die Aussage "Kinder brauchen Kinder" war und ist in den sozialen Medien allgegenwärtig. Doch nicht nur Kinder brauchen Kinder, auch Jugendliche brauchen Jugendliche.

Rainer Wirth ist Kreisjugendreferent im Neckar-Odenwald-Kreis. Ihn ärgert es, dass Jugendliche immer wieder auf ihre Existenz als Schüler und Schülerinnen, ihre Rolle als Prüflinge oder fürs Infektionsgeschehen reduziert beziehungsweise als "Betreuungsproblem" gehandelt werden. "Die Jugendlichen werden nur noch ,verordnet’, dabei müssen wir ihnen dringend wieder schöne Perspektiven bieten. Auch sie haben Bedürfnisse, die sie nun schon lange zurückstecken müssen", ist er überzeugt.

"Den Kindern fehlt der soziale Ausgleich", meint auch Marcus Wildner, Vorsitzender des Kreisjugendrings Neckar-Odenwald-Kreis. "Während sie früher ab und zu für eine Weile an den Computer durften, müssen sie heute von früh bis spät an diesem sitzen. Aber soziale Kompetenzen lassen sich nun einmal nicht am Bildschirm vermitteln."

Wildner hofft darauf, dass in diesem Sommer (natürlich unter strengen Hygieneauflagen) zumindest wieder die ein oder andere Jugendfreizeit stattfinden kann. Planungssicherheit ist dabei nicht gegeben. "Wir müssen viele Eventualitäten mitbedenken", fügt Wirth hinzu. Wie hoch das Bedürfnis nach solchen Ausgleichen in der Freizeit sei, habe man schon im Sommer 2020 gemerkt, erklärt Wildner. Auf einen Schlag sei die "Freizeit für Daheimgebliebene" in den Sommerferien ausgebucht gewesen – als nach langem Hin und Her feststand, dass sie überhaupt stattfinden konnte.

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Christine Günther leitet das Jugendhaus in Mosbach. Dieses konnte im vergangenen Jahr nur von September bis November öffnen – und auch in dieser Zeit konnten die Jugendlichen nur in kleinen, festen Gruppen die Räumlichkeiten nutzen. Dabei lebe die offene Jugendarbeit sowohl von Spontaneität als auch von Konstanz, erläutert Günther. "Jugendhäuser geben als Anlaufstation eine niederschwellige Sicherheit." Den Jugendlichen müsse es möglich sein, wann immer sie das Bedürfnis haben, zu einem festen Ort zu kommen, der zu festen Zeiten geöffnet ist.

"Einen Großteil der offenen Jugendarbeit macht die Beziehungsarbeit aus", erläutert Günther. Die Heranwachsenden müssten Vertrauen fassen, bräuchten eine erwachsene Ansprechperson außerhalb der Familie oder Schule, an die sie sich bei Problemen wenden könnten. "Die klassische Jugendarbeit ruht seit vielen Monaten. Ich kann zwar in einem kleinen Umfang Kontakt zu denen halten, die ich schon kenne, aber die, die jetzt neu dazukämen, erreiche ich nicht", so die Jugendhausleiterin.

Dabei zeigen sich laut Christine Günther schon jetzt klare Auffälligkeiten bei den Jugendlichen. Das reiche von einem erhöhten Redebedarf über Rastlosigkeit bis hin zu psychosozialen Auffälligkeiten. "Für uns Erwachsene ist es auch nicht schön, seit mehr als einem Jahr in unseren sozialen Kontakten beschränkt zu sein. Aber wir konnten uns ausleben, als wir jung waren. Die Jugend ist die Zeit, sich auszuprobieren, auch mal Mist zu bauen und dafür dann die Konsequenzen zu tragen", bringt es die Sozialpädagogin auf den Punkt. "Zwischen 16 und 18 Jahren ändert sich das halbe Leben."

"Wir müssen aufpassen, dass wir nicht eine ganze Generation verlieren", darin sind sich Wirth, Günther und Wildner einig. "Die Entwicklungsstadien sind in jungen Jahren gedrängter, die Jugend ist eine Zeit, die uns in sozialer Hinsicht für immer prägt", gibt Wirth zu bedenken. "Wenn wir an die Jugendlichen aber gar nicht herankommen, haben wir auch keine Chance, sie anzuleiten. Es fehlt die Möglichkeit, sie zu begleiten, ein Auge auf sie zu haben", sagt Günther. "Wenn wir nicht aufpassen, wird das zu vielen ,unausgepowerten’ Menschen führen, die immer das Gefühl mit sich herumtragen werden, etwas verpasst zu haben", mahnt sie an.

Marcus Wildner treibt noch eine weitere Sorge um: "Wie sollen wir an Nachwuchs für ehrenamtliche Positionen bei Freizeiten oder in Vereinen kommen? Oft sind Kinder über Jahre hinweg bei Veranstaltungen oder im Verein dabei, identifizieren sich damit und möchten dann irgendwann auch beispielsweise Jugendleiter werden. Wir müssen dringend die Möglichkeit bekommen, wieder Angebote für Jugendliche zu machen."

Einen möglichen Ausweg sehen Günther, Wildner und Wirth in verstärkten Testungen. Doch die müssten den Jugendlichen kostenlos zur Verfügung gestellt werden können. "Dafür brauchen wir Zuschüsse, das kann die verbandliche Jugendarbeit nicht alleine stemmen", führt Marcus Wildner an. Die beiden anderen stimmen ihm zu.

"Unsere Aufgabe ist es, die Jugendlichen zu motivieren, sie darin zu bestärken, noch etwas durchzuhalten", meint Rainer Wirth. Aber dafür müsse man ihnen auch etwas Hoffnung geben, ein Licht am Ende des Tunnels aufzeigen. Das dürfe von den Politikern und in der Bürokratie nicht vergessen werden. Denn Kinder und Jugendliche, mit all ihren Bedürfnissen, seien eben viel mehr als nur ein "Betreuungsproblem" ...

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