Lockdown-Auswirkungen auf psychisch Kranke teils gravierend
Beratungen bei Caritas und Diakonie so hoch wie 2019 - "Kinder sind zunehmend gestresst"

Neckar-Odenwald-Kreis. (mb) Psychisch Kranke leiden in besonderem Maße unter dem Lockdown. Aber auch für Familien, Kinder und Jugendliche wird die Situation zunehmend belastend. Das stellten Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen des Diakonischen Werks und der Caritas im Gespräch mit unserer Zeitung fest.
Trotz der Einschränkungen wegen der Corona-Krise zählten das Diakonische Werk und die Caritas im Neckar-Odenwald-Kreis ähnlich viele Beratungen wie im Jahr 2019. "Wir haben überraschend konstante Zahlen über alle Bereiche hinweg", sagte Guido Zilling, Geschäftsführer der Diakonie Neckar-Odenwald. Er hatte mit weniger Anfragen gerechnet, da Behörden und Kliniken teilweise geschlossen waren. "Die Anzahl der Beratungen hat nur minimal abgenommen. Und das trotz weniger Aufträge von Schulen und Kindertagesstätten", stellte auch Ursula Müller-Dietrich, Leiterin der psychologischen Erziehungs- und Familienberatungsstelle der Caritas in Buchen, fest.
Nach den Worten von Zilling seien die meisten Klienten während des ersten Lockdowns bereit gewesen, sich auch über Telefon oder Video beraten zu lassen. Nach den Lockerungen seien auch Hausbesuche möglich gewesen. Die Beratungen vor Ort habe man nie komplett eingestellt. Denn Fernberatung eigne sich nicht für Konfliktgespräche und sei auch bei vorhandenen Sprachbarrieren nicht möglich. "Unsere Fachkräfte leben von einer ganzheitlichen Wahrnehmung. Was machen die Hände und die Atmung?"
Ulrike Dinkelacker von der Abteilung "Hilfe für Menschen mit psychischen Einschränkungen" der Diakonie sieht auch Vorteile in der Fernberatung: "Video macht die Kommunikationsform einfacher", sagt sie. "Wir haben oft mit Menschen zu tun, die ein Problem damit haben, das eigene Haus zu verlassen." Bei Beratungen vor Ort trage man Maske, halte Abstand zueinander und lüfte regelmäßig. Die Termine dauerten nicht länger als eine halbe Stunde. Außerdem hätten sich sogenannte "Beratungsspaziergänge" bewährt. "Es ist eine andere Form der Begegnung", sagte sie. "Da geht etwas verloren."
Dinkelacker berät Menschen mit psychischen Erkrankungen, die deswegen meist nicht berufstätig sind. Sie leiden überwiegend an Psychosen, Angsterkrankungen, Depressionen oder Schizophrenie. "Ich stelle fest, dass die Situation vielfach die Menschen belastet. Sie rutschen mehr und mehr in die Depression. Sie leiden unter den eingeschränkten Kontakten, darunter, dass man sich nicht treffen darf." Das wirke sich "massiv aus auf die psychische Situation" aus. Vor allem die lange Dauer des Lockdowns trage dazu bei. "Es geht ans Eingemachte. Die Kräfte lassen nach", hat Dinkelacker festgestellt.
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Begegnungsgruppen, wie die für Frauen nach Krebs oder für Angehörige von psychisch Kranken, treffen sich nicht. Die Tagesstätte für psychisch Kranke hat ihre Öffnungszeiten reduziert, weil Mitarbeiter einen Teil ihrer Arbeitszeit für telefonische Beratungen aufwenden müssen. In den psychiatrischen Kliniken habe während des ersten Lockdowns eine Art Quarantäne-Situation mit eingeschränkten Besuchsmöglichkeiten geherrscht, zum Beispiel sonntags für eine Stunde. "Manche Kranke begeben sich deshalb nicht in stationäre Behandlung." Andere verzichteten auf ambulante Behandlung, weil ihnen die vorgeschriebene Maske zu teuer ist. "Psychisch kranke Leute ziehen sich im Lockdown noch mehr zurück", bedauerte Ulrike Dinkelacker.
Ursula Müller-Dietrich, Leiterin der psychologischen Erziehungs- und Familienberatungsstelle der Caritas in Buchen, geht auf die Belastungen von Familien sowie Kinder und Jugendlichen durch den Lockdown ein. "Kinder sind zunehmend genervt und gestresst. Vereinsaktivitäten als Ausgleich fallen weg. Es ist alles sehr stark auf die Familie zentriert", sagte sie. Auch die Caritas biete weiterhin persönliche Beratung an. Die Leute seien dankbar dafür, dass sie kommen dürften. Das Thema "Angst" habe in den Beratungen zugenommen. Außerdem fielen mehr Beratungen wegen Trennungen und Scheidungen an. "Jetzt hockt man sich Tag für Tag auf der Pelle. Das ist eine sehr anstrengende Zeit für Familien", stellte Müller-Dietrich fest.
Müller-Dietrich hat festgestellt, dass sich durch den Lockdown Tendenzen in der Psyche von Kindern und Jugendlichen verstärken. "Kinder, die bisher vorsichtig waren, werden ängstlich. Kinder, die leicht aggressiv waren, werden nun noch aggressiver", sagte sie. Zum Bespiel bekomme eine bisher vorsichtige Jugendliche Panik-Attacken, wenn sie zur Schule gehen soll, um Klassenarbeiten zu schreiben. Die Erziehungsberaterin appellierte daran, mehr auf junge Menschen zu achten. "Für Jugendliche ist die Situation sehr gravierend", sagte die Erziehungsberaterin. "Kleine Kinder haben nur Erwachsene um sich herum." Sie befürchtet, dass sich die psychischen Folgen und Defizite der Corona-Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen erst später zeigen würden, zum Beispiel in einer größeren Zahl an Schulverweigerern. Man werde Kindern in der Zeit danach erst wieder geregelte Strukturen beibringen müssen.
Info: Die Kontaktdaten der Beratungsstellen von Caritas und Diakonie findet man unter www.caritas-nok.de und unter www.diakonie-nok.de. Die Beratungen sind kostenlos.



