Führt der Lockdown mehr Jugendliche in die Mediensucht?
Psychologen, Sozialpädagogen und Ärzte beschäftigt das Thema Medienkonsum zunehmend - Eltern müssen gutes Vorbild sein - Immer mehr Jugendliche sind süchtig

Von Caspar Oesterreich
Neckar-Odenwald-Kreis. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene verbringen deutlich mehr Zeit im Internet. Der Lockdown zwingt zum Homeschooling, und gemeinsames Onlinespielen mit Freunden oder die Nutzung von Social Media fungieren zunehmend als einzige Treffpunkte während der Pandemie. Die DAK-Krankenkasse stellte in einer Studie einen Anstieg der Internetnutzung von über 66 Prozent bei Teenagern fest. Laut einer Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigen heute 7,6 Prozent der Zwölf- bis 25-Jährigen ein computerspiel- und internetbezogenes Suchtverhalten. 2015 lag der Wert noch bei 5,7 Prozent.
"Eltern sollten deshalb jetzt aber nicht gleich in Panik verfallen", erklärt Psychologin Dr. Martina Kirsch. Die aktuelle Zunahme der Internetnutzung sei in erster Linie fehlenden Alternativen geschuldet und nicht gleich ein Anzeichen für eine bedenkliche Konsumstörung, betont die Leiterin der Suchtberatungsstellen in Mosbach und Buchen. "Bei den meisten Menschen, die jetzt mehr Zeit in der digitalen Welt verbringen, wird es sich um eine temporäre Erscheinung handeln. Denn viele von uns brennen doch darauf, sich endlich wieder normal mit Freunden treffen zu können, wieder in den Sportverein zu gehen oder einen Restaurantbesuch zu genießen", macht sie deutlich.
Aber wahrscheinlich werde es auch ein paar Menschen geben, die nach dem Lockdown in der digitalen Welt verhaftet bleiben, vermutet die Psychologin. Im Moment jedoch sei noch kein Anstieg beim Beratungsbedarf bezüglich des Medienkonsums festzustellen, sagt Kirsch. "Was natürlich auch daran liegen kann, dass die durch Homeoffice gestressten Eltern schlicht und einfach froh sind, wenn ihre Kinder überhaupt irgendwas haben, mit dem sie sich beschäftigen können", nennt Ercan Efe einen potenziellen Grund dafür. "Gut möglich, dass eine problematische Internetnutzung zunächst gar nicht als solche erkannt wird", so der Sozialpädagoge und stellvertretender Leiter der Suchtberatung.
Ein paar Stunden mehr vor dem Bildschirm seien erst einmal nicht schlimm, erklären Kirsch und Efe. Wichtig sei, dass die Eltern wüssten, was ihre Kinder im Internet tun, klare Regeln festlegen und diese auch durchsetzen. Sinnvoll sei es etwa, mindestens zwei Stunden vor dem Schlafengehen alle digitalen Medien ausgeschaltet zu lassen. "Das blaue Licht mindert die Ausschüttung des ,Schlafhormons’ Melatonin, zudem ist die Reizüberflutung nicht gut für eine erholsame Nacht", sagt Efe. Er empfiehlt, ein "Wochenkontingent" zu vereinbaren, sodass sich die Kinder und Jugendlichen selbst die tägliche Zeit im Internet einteilen können. "Wichtig ist auch, dass die Bewegung nicht zu kurz kommt, ein Grundbedürfnis von uns Menschen", ergänzt Kirsch. Problematischer Medienkonsum zeichne sich u. a. durch Kontrollverlust aus, berichtet der Sozialpädagoge. "Wenn das Kind sich etwa nicht an die gemeinsamen Regeln halten will, wahnsinnig Stress macht, sogar aggressiv wird, wenn es Handyverbot gibt, ist das ein Anzeichen für eine Konsumgebrauchsstörung." Sobald ein von außen herbeigeführtes Aufhören extreme Reaktionen auslöse, sollten Eltern aufmerksam werden.
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Kirsch und Efe vermuten, dass es nach dem Lockdown zu einem großen Ansturm bei der Suchtberatung kommt. Im Moment sei es nicht nur beim Thema Medienkonsum eher ruhig – allgemein würden sich aktuell weniger Erkrankte bei den Beratungsstellen melden. "Coronabedingt findet der Konsum versteckt zu Haue statt, fällt dem Chef oder Kollegen bei Kurzarbeit und Homeoffice nicht auf, die sonst sozialen Druck ausüben können", sagt Efe. Nach dem Lockdown im vergangenen Frühjahr habe es einen Regelrechten Run auf die Beratungsstellen gegeben. "Wir gehen davon aus, dass es dieses Mal nicht anders kommt."
Zugenommen – nicht in Bezug auf den Medienkonsum aber dafür vor allem beim Alkoholmissbrauch – hätten allerdings die Anrufe von Angehörigen bei den Suchtberatern. "Die leiden gerade besonders unter der Situation", wissen Kirsch und Efe. "Es muss aber nicht erst eine dramatische Situation entstehen, bis man sich bei uns melden kann. Wir informieren gerne, ob über Medien- oder Drogenkonsum, auch wenn noch keine Sucht ausgeprägt ist."
Auch die Experten beim Caritasverband und der Johannes-Diakonie beschäftigt der Medienkonsum zunehmend. "Das Thema taucht öfter in den Gesprächen auf, z.B. unter dem Aspekt familiäre Konflikte, Stress oder Gehorsam", sagt Ursula Müller-Dietrich, Psychotherapeutin bei der Caritas. Medienkonsum sei eine ebenso einfache wie verführerische Möglichkeit der Ablenkung und Freizeitgestaltung und gerade deshalb jetzt noch problematischer. Dr. Karsten Rudolf, Ärztlicher Direktor der Diakonie-Klinik Mosbach, erklärt: "Für Kinder und Jugendliche heute ist es quasi überlebenswichtig, digital kompetent zu sein und gleichzeitig sensibilisiert zu werden." Eltern sollten daher einen angemessenen Mittelweg wählen und selbst ein Vorbild sein, rät er.
Info: Suchtberatung im Kreis unter Tel.: (0 62 61) 86 71 40; Infos zur Mediensucht unter protect-mediensucht.de.