Plus Bundestreffen in Mannheim

Krisen und Vorwürfe erschweren Tafeln Kampf gegen Armut

Der Führungswechsel fällt in eine Zeit zunehmender Bedeutung der Einrichtung in der Armutsbekämpfung.

07.07.2023 UPDATE: 07.07.2023 06:00 Uhr 4 Minuten, 24 Sekunden
Symbolbild: dpa/Jan-Peter Kasper

Von Olivia Kaiser

Mannheim. Weniger Lebensmittelspenden bei immer mehr Kundschaft, gestiegene Betriebskosten, sinkende Zahlen bei freiwilligen Helferinnen und Helfern – die 969 Tafeln mit über 2000 Ausgabestellen in Deutschland arbeiten am Limit. Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine sowie die daraus resultierende Inflation wirkten wie ein Katalysator auf die schon zuvor angespannte Situation.

Diese Themen kommen beim Bundestafeltreffen, das noch bis Samstag, 8. Juli, im Mannheimer Rosengarten stattfindet, zur Sprache. Zudem wählen die Tafel-Delegierten den Vorstand neu. Der Vorsitzende, Jochen Brühl, tritt nach zehn Jahren nicht mehr an. Der Führungswechsel fällt in eine Zeit zunehmender Bedeutung der Tafeln in der Armutsbekämpfung. Dabei sieht sich die Tafel in einer Zwickmühle: "Einerseits wollen wir Menschen, die nicht das Geld haben, um sich genug Lebensmittel zu kaufen, unterstützen", sagte Brühl am Donnerstag.

Tafel-Geschäftsführerin Sirkka Jendis und der scheidende Vorsitzende Jochen Brühl. Foto: Gerold

16 Millionen Menschen in Deutschland seien von Armut betroffen, Kinderarmut weit verbreitet. "Es ist aber vor allem die Aufgabe der Bundesregierung, etwas dagegen zu tun. Wir wollen den Sozialstaat nicht noch mehr aus der Verantwortung nehmen", stellte er klar. Daher fordert Tafel Deutschland staatliche Unterstützung zur Grundfinanzierung der Tafel-Arbeit.

Der Verein gehört zu den 27 Organisationen, die einen Aufruf an Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) formuliert haben. Darin fordern sie, dass die Regierung die im Koalitionsvertrag vereinbarte Neudefinition des kindlichen Existenzminimums "endlich" angeht und den Weg für die Kindergrundsicherung frei macht.

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Fast alle Tafeln der Bundesrepublik verzeichnen einen deutlichen Zuwachs: 36 Prozent haben bis zu 50 Prozent mehr Kunden, 16 Prozent doppelt so viel oder sogar noch mehr. 24 Prozent der Tafel-Kunden sind Erwerbslose, 31 Prozent gehen einer Arbeit nach, und genauso viel sind Rentner.

Ohne Ehrenamtliche würde das System nicht funktionieren, 60.000 Helfer arbeiten mit. Sie geben Lebensmittel aus oder unterstützen in der Logistik. Die wird immer komplizierter, wie Sirkka Jendis, Geschäftsführerin von Tafel Deutschland, erklärt: "Mitunter gibt es Verteilungsprobleme. Dort, wo der Bedarf ist, sind nicht unbedingt große Mengen an Lebensmitteln, diese müssen dann an anderen Orten abgeholt werden. Wir müssen entsprechend ausgerüstet sein, um größere Mengen transportieren zu können.

Die Situation der Tafeln in der Bundesrepublik ist unterschiedlich: Manche erhalten genug Lebensmittelspenden, andere nicht. Manche haben zu wenige Ehrenamtliche, andere so viel Kundschaft, dass man sich gezwungen sieht, zum Beispiel die Ausgabetage oder die Menge an Lebensmitteln zu reduzieren. In Einzelfällen habe man Lebensmittel zukaufen müssen, so Jendis.

Ein weiteres Anliegen ist die Lebensmittelrettung. Zu viel Nahrung wird verschwendet, in Privathaushalten sind es bis zu 60 Prozent. Die Politik müsse Aufklärungskampagnen und Bildungsprogramme initiieren, so eine weitere Forderung. Für Erzeuger und Händler von Lebensmitteln müssten zudem Hürden bei Produkthaftung und Besteuerung abgebaut werden, findet Brühl: "Es kann nicht sein, dass es billiger ist, Nahrung zu vernichten, als zu spenden."

Beim „Markt der Möglichkeiten“ im Mannheimer Rosengarten konnten sich die Delegierten informieren, zum Beispiel über die eco-Plattform der Tafel für digitale Lieferscheine oder die Prozessvereinfachung bei der Lebensmittelabholung. Foto: Gerold

Lebensmittelrettung ist auch ein großes Thema beim "Markt der Möglichkeiten", der das Bundestreffen im Rosengarten flankiert. Dort stellen sich die Tafel und Sponsoren vor. Viele Menschen werfen Lebensmittel weg, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Eigentlich könnten sie aber noch verzehrt werden. Welche Nahrungsmittel noch wie lange genießbar sind, darüber informiert die Tafel Deutschland an ihrem Stand.

Für Aufregung sorgte ein zum Start des Bundestreffens erschienener Artikel der Zeitung "Business Insider". Von Intransparenz bei den Gehältern ist die Rede, von Vetternwirtschaft – und von Beschwerden, dass nicht genug Spendengelder, welche die Arbeit der Tafeln finanzieren, in der Fläche ankommen.

Zu den Vorwürfen äußerte sich die Geschäftsführerin. Man habe im vergangenen Jahr 75 Prozent der Gelder an die Mitgliedsorganisation ausgeschüttet – so viel wie nie zuvor. Für das laufende Jahr plane man aufgrund einer einmaligen Sonderförderung der Stiftung Deutsches Hilfswerk sogar Ausschüttungen in Höhe von fast 30 Millionen Euro.

Jendis gab allerdings zu, dass das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI), dessen Spendensiegel die Tafel besitzt, die "Darstellung der Gehaltsstruktur und der Gehälter der Geschäftsführung im Jahresbericht" für "nicht ausreichend" hält und versprach: "Das werden wir beheben." Aufträge an die Grafikdesign-Agentur von Brühls Ehefrau seien entsprechend der Vergabeordnung erfolgt und bei Prüfungen nicht beanstandet worden. Im Rahmen der umfassenden Compliance-Regelung, die seit 2022 von einer Kanzlei erarbeitet wird, werde man sich aber strengere Kriterien auferlegen. Dass der scheidende Vorsitzende sich nicht mehr zur Wahl stellt, habe nichts mit den Vorwürfen zu tun, dies habe er schon vorher bekannt gegeben.


"Für viele Menschen der letzte Rettungsanker"

Der Tafel-Gedanke stammt ursprünglich aus New York. Die erste Ausgabestelle eröffnete vor 30 Jahren in Berlin. Das Spendenaufkommen ist derzeit jedoch rückläufig.

Die erste Tafel entstand vor 30 Jahren in Berlin. Mittlerweile bilden die Tafeln eine der größten sozialen Bewegungen Deutschlands. Der Dachverband vertritt ihre Interessen auf Bundes- und internationaler Ebene, zudem gibt es zwölf Landesverbände. Die RNZ beantwortet weitere Fragen rund um die Tafel-Bewegung.

Woher kommt der Tafelgedanke? Zwei Dinge fielen zusammen: ein Zeitungsbericht über die Organisation "City Harvest" (Stadt-Ernte) in New York, die überschüssige Lebensmittel an Obdachlose verteilte, und ein Vortrag der damaligen Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) über Obdachlosigkeit in Berlin. Beides rüttelte die Initiativgruppe Berliner Frauen auf, darunter Sabine Werth. "Damals lautete die Aussage der Regierung Kohl, es gebe keine Armut in Deutschland und jeder beziehe auskömmliche Leistungen", sagt die 66-Jährige. Dies sahen sie und eine Handvoll Mitstreiterinnen ganz anders und baten Firmen nach US-Vorbild um Spenden nicht verkäuflicher, aber noch genießbarer Lebensmittel.

Was bekommt man bei den Tafeln? Helfer sammeln überschüssige Lebensmittel in Handel, Bäckereien und Gastronomie ein und bringen sie zu den Tafeln. Die Waren kommen aus Lagerbeständen, Retouren und Überproduktion. Auch Produkte mit kurzem Mindesthaltbarkeitsdatum oder Schönheitsfehlern werden abgeholt. Das Angebot für die Kunden der Tafeln kann von Obst und Gemüse über Backwaren bis hin zu Milchprodukten reichen. Haltbare Waren wie Nudeln oder Reis werden seltener gespendet.

Wie viel wird an die Tafeln gespendet? Nach Auskunft des Handelsverbands Lebensmittel spenden Firmen 74.000 Tonnen im Jahr. Das ist aber eher ein Tropfen auf den heißen Stein: Laut Dachverband der Tafeln landen 18 Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich im Müll, zur Hälfte noch genießbar. Bei Supermärkten sei das Spendenaufkommen rückläufig, da bei diesen bewusster gegen Überschüsse vorgegangen wird.

Wer darf sich an den Tafeln bedienen? Nicht nur Obdachlose, sondern auch Menschen, die mittels Jobcenter-, Renten- oder Bafög-Bescheid ihre Bedürftigkeit nachweisen können, erhalten einen Tafelausweis. Im Detail gibt es Unterschiede: In Berlin kann von Tafeln profitieren, wer weniger als 800 oder 900 Euro im Monat zur Verfügung hat; für jeden Einkauf sind ein oder zwei Euro fällig. Die Mannheimer Kunden bezahlen die einzelnen Waren für maximal ein Drittel des üblichen Ladenpreises. In Frankfurt wird pro mitgenommenen Beutel ein Euro bezahlt. Auch Öffnungshäufigkeit und -länge sowie das Sortiment sind abhängig von den Bedingungen vor Ort.

Wie bewerten Arbeitslosen-Initiativen die Entwicklung der Tafeln? Aus Sicht des Fördervereins gewerkschaftlicher Arbeitslosenarbeit ist es ein Skandal, dass private Organisationen wie die Tafeln als Lückenbüßer das staatlich garantierte Existenzminimum bereitstellen müssten. "Für viele Menschen sind die Tafeln der letzte Rettungsanker", sagt Referent Rainer Timmermann. Das Bürgergeld reiche auch nach einer Erhöhung um 50 Euro wegen gestiegener Inflation und Stromverteuerung nicht zum Leben.

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