Chef Udo Dahmen blickt auf spannende Jahre zurück
Der 72-Jährige spricht über Karrieren, Kommerz, Konkurrenz im Business und empfiehlt: Nicht nur auf eine Einnahmequelle zu setzen.

Von Alexander Albrecht
Mannheim. Seit ihrer Gründung vor 20 Jahren leitet Professor Udo Dahmen den künstlerischen Bereich der Popakademie und bildete mit Hubert Wandjo für den Business-Sektor – inzwischen Michael Herberger (Ex-Söhne Mannheims) – eine Doppelspitze. Der vor wenigen Tagen 72 Jahre alt gewordene, gebürtige Aachener studierte klassisches Schlagzeug und spielte in Bands wie Kraan, Lake oder Eloy.
In Hamburg wurde Dahmen 1983 Dozent und ab 1994 Sprecher des Kontaktstudiengangs Popularmusik. Knapp zehn Jahre später dann der Wechsel nach Mannheim und an die Popakademie, die er mit begründete. Im Interview blickt der scheidende künstlerische Direktor und Geschäftsführer der erfolgreichen Einrichtung auf 20 spannende Jahre zurück.
Udo Dahmen über...
> ... die Ausbildung: "Ich war selbst lange Popmusiker und habe gesehen, dass eine Ausbildung in diesem Bereich unbedingt notwendig ist. Es gibt besondere Herausforderungen, die nicht in anderen Studiengängen, klassische Musik oder Jazz, abgebildet werden können. Dazu gehören neben dem eigentlichen Musikstudium auch eine wirtschaftliche Seite und eine genreübergreifende Offenheit. Alle Studierenden sollen ihre eigene Musik machen. Bei uns werden von Anfang an keine Songs nachgespielt."
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> ... die Studierenden damals und heute: "In den ersten ein, zwei Jahren haben sich viele Leute beworben, die nur darauf warteten, dass es endlich losgeht. Die Streuung der Studierenden lag bei 18 bis 28 Jahren. Heute sind unsere Bachelor-Studenten im Durchschnitt 21 Jahre, beim Master drei, vier Jahre älter. Die jetzige Generation weiß in der Regel schon sehr genau, was sie will. Musik hat nach wie vor den höchsten Stellenwert, aber wir helfen ihnen dabei, sich selbst vermarkten, ihr Business im ersten Schritt selbst machen zu können und darüber sehr gut Bescheid zu wissen."
> ... den Praxisbezug des Studiums: "Natürlich träumt am Anfang fast jede und jeder davon, mit der eigenen Musik Karriere zu machen und Geld zu verdienen. Das ist aber nur eine mögliche Einnahmequelle, und man sollte nicht nur auf ein Pferd setzen. Deshalb bildet das Studium auch drei weitere Möglichkeiten ab: das Produzieren und Komponieren, eine eigene Firma zu gründen und das Unterrichten in größeren Teams. Besonders wichtig ist uns der Businessbereich, der etwa 15 bis 20 Prozent im Wahlpflichtbereich abdeckt."
> ... die wichtigsten Entwicklungsschritte: "Die deutlichste Veränderung war 2008 unser Studiogebäude, in dem wir Proberäume und ein Studio installiert haben. 2011 kamen die beiden Masterstudiengänge dazu, und gleichzeitig wurde die Popakademie um zwei Stockwerke erweitert. 2014 folgte dann der Bereich elektronische Musik innerhalb unseres Producer-Bereichs und 2015 die Einführung des Weltmusikstudiengangs mit im Wesentlichen türkisch-arabischer und westafrikanischer Musik. Damit wurden wir auch dem Umstand gerecht, dass inzwischen mehr als 20 Prozent der Bevölkerung Menschen mit Migrationshintergrund sind und einen Anspruch auf akademische Ausbildung haben."
> ... die künstlerische Freiheit und das Konkurrenzdenken: "Alle wichtigen Räume können 24/7 bespielt werden. Das Curriculum ist zwar streng vertaktet mit einem täglichen Zeitplan von 9.30 bis 16.30 Uhr. Davor und danach gibt es aber viele Möglichkeiten zum Proben und Experimentieren. Im Hauptstudium ist dafür noch mehr Zeit, weil der Pflichtteil geringer wird. Für die Bandarbeit gibt es keine zeitlichen Vorgaben, außer dass Dozierende zu bestimmten Zeiten dazustoßen und Hilfestellung leisten.
Aber wir wollen schon einen gewissen Druck im Kessel. Für manche Studierende ist nach vier Wochen das erste Konzept verpflichtend. Die anderen sehen, was in dieser Zeit bereits möglich ist. Daraus entsteht ein sportiver Wettbewerb, die Studierenden fällen schneller Entscheidungen. Beim Textschreiben gilt grundsätzlich die alte Regel: Die ersten 100 Songs sind noch nichts, dann fängt es an, interessant zu werden.
Es geht jedenfalls nicht in drei Minuten, mal abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen. Unsere Abschlüsse haben einen wissenschaftlichen Anteil von 40 Prozent. Nach dem Master-Studium ist auch eine Promotion möglich, die durchaus einige Studierende anstreben."
> ... die anfängliche Erwartungshaltung, dass die Popakademie Stars am Fließband produziert: "Wir wollen junge Menschen unterstützen, die ihr Leben in und mit der Popmusik führen möchten. Das war und ist unser Ziel. Dass Studierende und Absolvierende in den Charts landen, ist selbstverständlich, braucht aber Zeit, da sollte man sich keine falschen Hoffnungen machen. Und das kann man auch nicht künstlerisch beschleunigen. Sowohl die Fürsprecher als auch die Kritiker waren sich anfänglich einig, da kommen jetzt die neuen Söhne Mannheims oder etwas Ähnliches dabei raus.
Es war aber nie unsere Absicht, unsere Musikerinnen und Musiker auf irgendeine Weise zu programmieren. Wir haben insgesamt über 50 Bands im Haus und 30 Studioteams. Alle können ihre Musik so machen, wie sie es möchten. Manche unserer Künstlerinnen und Künstler sind extrem erfolgreich, haben aber nach zwei, drei Jahren ihren Peak erreicht. Dann ist es gut, wenn sie auch in anderen Bereichen gut aufgestellt sind. Das Geheimnis liegt in der Diversität."
> ... das Glück von Künstlern, den Zeitgeist zu treffen: "Im Moment ist die große Währung, wie viele Follower jemand hat und wie Songs wie oft gestreamt werden. Die Frage ist: Was ist Erfolg? Es sind nicht immer nur die Verkaufszahlen oder ob ich in den Top-10 bin. Ich kann auf sehr hohem Niveau sehr erfolgreich im New-Metal- oder Alternativebereich sein, ohne dass ich auf der Straße erkannt werde.
Annika Nilles zum Beispiel leitet bei uns die Schlagzeugabteilung und hat eine eigene Band, die im Jazz-Genre angesiedelt ist. Sie war mit Ausnahme-Gitarrist Jeff Beck auf Tour. Auch sie hat sehr viele Follower, aber das sind fast alle Schlagzeuger. Es ist eine sehr erfolgreiche Nische, in der sie sich bewegt."
> ...die "Flucht" der Absolventen in große Metropolen wie Berlin oder Hamburg: "Für Business-Studenten gilt das noch mehr, weil sich die Szene stark auf Berlin konzentriert und man dort Chancen auf eine Festanstellung hat. Bei den Musikern, die hierbleiben oder zurückkommen, steigt die Quote auf 20 bis 30 Prozent. Konstantin Gropper von der Band Get Well Soon gehört dazu oder Ziggy Has Ardeur, die unter anderem für Netflix Soundtracks produzieren. Ich würde mir wünschen, dass wir noch mehr Leute hierher kriegen."
> ... Streamingdienste wie Spotify und den Vorwurf, dass die Konzerne die Musiker häufig nur unzureichend an den Umsätzen beteiligen: "Wir müssen die Möglichkeiten der Rechtevergabe, der Verwertung und der Verteilung der Gelder neu regeln. Ich bin aber optimistisch, dass sich die Dinge positiv entwickeln, und nach der Pandemie hat auch der Live-Sektor wieder angezogen."
> ... Musik machen am Rechner: "Heute kann in the Box, also vom Laptop aus, produziert werden. Der Rechner hat sich als ein Instrument erwiesen und damit auch das Studium verändert. Laptop-Producing ist seit zwei Jahren ein gleichwertiges Nebenfach bei uns wie Gitarre oder Klavier und wird hervorragend angenommen. Es gibt immer mehr Multiinstrumentalisten, die den Laptop als gleichwertiges Instrument betrachten."
> ... die Rolle Künstlicher Intelligenz: "Sie wird sehr schnell sehr wichtig werden, wobei noch nicht abzusehen ist, in welche Richtung es gehen wird. Wir erleben durch ChatGPT eine unglaubliche Arbeitsleichterung, wenn man das nutzen will. Vorher musste man für Texte zum Teil lange recherchieren.
Die Entwicklung wird sich schnell beschleunigen, weil selbst lernende System selbst lernen und man eigene Quellen einpflegen kann. Es werden in diesem Bereich Jobs in Studios wegfallen oder sich komplett verändern. Und es wird in der Breite zu einer größeren Standardisierung auf etwas höherem Level führen.
Aber es wird auch immer Kreativrevolutionäre geben, also Menschen mit einem disruptiven oder dekonstruktivistischen Ansatz, das ist ja Kunst im wahrsten Sinnen des Wortes, die nicht ersetzbar ist. KI kann das nicht, möglicherweise in der nächsten Entwicklungsstufe. Wir müssen uns aber schnell kümmern, zum Beispiel beim Urheberrecht, dies sollte innerhalb eines knappen Zeitrahmens geregelt sein: Dafür haben wir wahrscheinlich nur zwei bis drei Jahre Zeit."
> ... seine letzten Tage an der Popakademie: "Formal ist der 31. August mein letzter Arbeitstag. Unsere Prüfungsperiode dauert noch bis Ende Juli, da bin ich komplett mit eingebunden, ebenso bei den Vorbereitungen für das Semesterabschlusskonzert."
> seinen Nachfolger Derek van Krogh: "Er ist Produzent und ein herausragender Fachmann auf diesem Gebiet und der Livemusik. Derek bringt auch ein großes internationales Netzwerk mit."
> ... sein künftiges "Rentnerleben": "Ich eigne mich nicht zum Ruhestand, zumindest im Moment nicht. In den nächsten eineinhalb Jahren bin ich Berater des landesweiten Strategieprozesses ,Popländ’. Ich mache die Reihe ,Erklär’ mir Pop’ beim SWR weiter und bin im Ehrenamt Vizepräsident des Deutschen Musikrats. Es gibt ein Buchangebot für mich als Pop-Zeitzeuge, das ich aber noch nicht angenommen habe, und ich möchte eventuell wieder mehr Schlagzeug auf der Bühne spielen."



