Heidelberg

Was der Corona-Verzicht mit Jugendlichen macht

Jugendliche müssen in der Pandemie auf vieles verzichten, was die Jugend ausmacht.

23.03.2021 UPDATE: 24.03.2021 06:00 Uhr 3 Minuten, 19 Sekunden
Eva Vonderlin leitet die Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche. Foto: pr

Von Anica Edinger

Heidelberg. Jugendliche fühlen sich in der Pandemie zunehmend alleingelassen. Das belegte jüngst eine Studie der Universität Hildesheim. Ein Ende der Einschränkungen ist nicht in Sicht. Wie ist die Lage in Heidelberg? Die RNZ sprach mit der Kinder- und Jugendtherapeutin Dr. Eva Vonderlin, die die Psychotherapeutische Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche leitet.

Frau Vonderlin, keine Schule, keine Partys, keine Freunde treffen, Angst vor der Zukunft: Versinkt bald eine ganze Generation Jugendlicher in Depressionen?

So pauschal kann man das nicht sagen. Eine Depression hat ja nicht nur einen einzelnen Auslöser. Dafür braucht es längerfristige Prozesse und multiple Risikofaktoren. Es ist mir auch wichtig zu sagen, dass die Pandemie und was sie von der Gesellschaft abverlangt, für alle schwer ist. Jugendliche sind nicht per se stärker betroffen als Senioren oder Kinder. Aber es gibt in jeder Altersgruppe spezifische Risiken.

Welche Risiken sind das?

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Jugendliche trifft die Pandemie an verschiedenen Fronten hart: Beispielsweise in Hinblick auf den Kontakt zu ihren Peers – also Gleichaltrigen. Während kleinere Kinder auch mal gerne mit der Mama oder dem Papa spielen, ist das für Jugendliche wenig attraktiv. Sie benötigen für ihre Entwicklung Gleichaltrige und Cliquen, auch die Auseinandersetzungen dabei. Das Thema Freunde treffen, dass kaum Freizeitaktivitäten stattfinden (beispielsweise keine Sportvereine, keine Party oder Discos), spielt auch in der Therapie bei uns seit Pandemie-Beginn eine größere Rolle.

Weil der ganze Spaß des Jugendlichseins wegfällt?

Bei diesen Aktivitäten geht es nicht nur ums Spaß haben. Stellen Sie sich das doch einmal vor: Man fiebert sein ganzes junges Leben darauf hin, seinen 18. Geburtstag zu feiern – und dann darf man niemanden einladen. Das kann schon niederschmetternd sein und als starker Verlust empfunden werden. Außerdem geht es beim Weggehen und Freunde treffen auch darum, Beziehungserfahrungen zu machen, um die Entwicklung der eigenen Identität, des Selbstwertgefühls, um Zugehörigkeit und die Ablösung vom Elternhaus. Letzteres ist schwierig, wenn man die ganze Zeit zu Hause sitzen muss, stellt aber eine sehr wichtige Entwicklungsaufgabe im Jugendalter dar. Die ersten Schritte in die Autonomie, die Selbstständigkeit: Das sind Dinge, die sehr gefährdet sind durch die Einschränkungen.

Hat die Patientenzahl bei Ihnen in der Ambulanz seit Beginn der Pandemie zugenommen?

Nein, wir stellen keine direkte Zunahme bei den Anmeldungen in unseren Ambulanzen fest. Die Zahl ist auf konstant hohem Niveau. Aber es gibt durchaus Studien, die belegen, dass psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen im Zuge der Krise zugenommen haben. Und das bemerken wir auch in den Gesprächen.

Verschiedenen Studien zufolge haben beispielsweise Angst- und Essstörungen zugenommen.

Das ist richtig. Dabei gilt aber zu beachten, dass bei der Entwicklung dieser Störungen immer auch verschiedene Risiko- und Schutzfaktoren bedeutsam sind. Das heißt: Es spielen auch immer die persönlichen Voraussetzungen und die sozialen Umstände eine Rolle. Wo auch vor der Pandemie bereits Probleme bestanden, verschärfen diese sich nun häufig. Nehmen Sie eine Angstneigung: Wenn sich ein Jugendlicher sowieso schon viele Gedanken macht und es kommt so ein Unsicherheitsfaktor wie Corona obendrauf, kann das "das Fass zum Überlaufen bringen" und in eine klinische Angststörung übergehen.

Das heißt im Klartext: Jugendlichen, denen es vor der Pandemie gut ging, geht es auch weiter gut, und denjenigen, die zuvor bereits Schwierigkeiten hatten, geht es jetzt richtig schlecht?

Klar ist: Wo Risiken kumulieren, entstehen die meisten Probleme, wo hingegen Ressourcen verfügbar sind, werden Belastungen abgefedert. Jugendliche etwa, die sich schon immer gut selbst organisieren konnten, kommen mit den aktuell veränderten schulischen Anforderungen besser zurecht. Oder: Wo die Beziehung zu den Eltern gut ist, ist das Zuhausebleiben leichter. Natürlich haben es auch Jugendliche schwerer, die sich mit der ganzen Familie ein Endgerät für den Unterricht teilen müssen.

Was empfehlen Sie Jugendlichen, die sich derzeit besonders belastet durch die Situation fühlen?

Wichtig ist, dass ihnen in der Familie ein Rückzugsraum zugestanden wird, wo sie Privatsphäre haben, vor allem, wenn die ganze Familie im Homeoffice ist. Außerdem sollte man die Tagesstruktur aufrecht erhalten. Natürlich ist man leicht verleitet, sich mal im Schlafanzug vom Bett aus in den Englischunterricht zu schalten, das wirkt sich aber auf die Motivation und Stimmung eher negativ aus. Auch Essstörungen können übrigens begünstigt werden, wenn die Tagesstruktur wegfällt. Aber auch Eltern sind gefragt.

Wie können Eltern ihre Kinder am besten unterstützen?

Sie sollten die Kontakte, die erlaubt sind, auch zulassen. Auch ein bisschen mehr Online-Zeit als sonst üblich sollte drin sein. Denn viel Soziales läuft aktuell eben im Internet ab. Das sollte man den Jugendlichen nicht auch noch wegnehmen. Und sie sollten aufpassen, dass keine Schuldszenarien aufgebaut werden, wenn sich nach Kontakten doch mal jemand ansteckt. Denn auch das belastet viele Jugendliche: Sie machen sich Sorgen, schuld zu sein, wenn sie jemanden aus der Familie anstecken. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Jugendliche die Situation sehr ernst nehmen und verantwortungsbewusst handeln.

Wäre es dann nicht an der Zeit, das zu belohnen – und Schulen wieder für alle zu öffnen mit ausreichenden Tests und geimpften Lehrern?

Ich möchte da keine verkürzte Aussage treffen, was der "richtige Weg" mit Blick auf die Schulöffnung ist. Da gilt es, vielfältige Argumente sorgfältig gegeneinander abzuwägen, sowohl unter gesundheits- als auch bildungspolitischen Aspekten. Schön wäre in jedem Fall ein bisschen mehr Vorhersehbarkeit – übrigens für alle Menschen.

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