Heidelberg

So funktioniert das gemeinschaftliche Wohnen im Mark-Twain-Village

Rund 370 Menschen leben dort in gemeinschaftlichen Wohnprojekten. Die RNZ war zu Besuch.

01.09.2020 UPDATE: 17.09.2020 06:00 Uhr 4 Minuten, 12 Sekunden
Mehrere Wohngruppen sind inzwischen im Mark Twain Village entstanden. Im Hof der „Woge“ berichteten Felix Schacht (v.l.), Lisa Lepold, Anne Weigand, Ute Straub und Maria Busemann von der neuen Nachbarschaft. Foto: Philipp Rothe

Von Steffen Blatt

Heidelberg. Sie sind jung und alt, alleinstehend und mit Familie, berufstätig oder Studenten, haben Eigentums- oder Mietwohnungen. Die Mischung der Menschen, die entlang der Rheinstraße in Mark-Twain-Village (MTV) wohnen, unterscheidet sich kaum von vielen anderen Quartieren Heidelbergs. Und doch ist eine Sache anders, denn sie alle haben etwas gemeinsam: Sie wollen nicht wohnen wie die meisten anderen. Jeder für sich, in der eigenen Wohnung oder im eigenen Haus, mit eigenem Garten und Hecke – das ist nichts für sie. Sie wollen wirklich zusammen leben. Darum wohnen rund 370 Menschen in gemeinschaftlichen Projekten – die RNZ stellt sie vor.

> Die Idee: "Wie wollen wir im Alter leben? Diese Frage haben wir uns gestellt. Wir wollen selbstbestimmt bleiben und nicht in ein Seniorenheim", erzählt Ute Straub vom Wohnprojekt "Woge" in der Rheinstraße 11. Ursprünglich waren sie eine Gruppe von Menschen über 60, die sich bereits vor acht Jahren zusammengeschlossen haben. Über die Zeit ist jedoch ein Mehrgenerationenprojekt daraus geworden – und jetzt leben 80 Erwachsene und 29 Kinder in drei Gebäuden: je ein Drittel Paare, Singles und junge Familien. Eine große "Wohngemeinschaft", denn dafür steht die Abkürzung des Projekts. Ein Bestandsgebäude wurde saniert, zwei Bauten wurden neu errichtet. Eine Wohnung wurde für eine Flüchtlingsfamilie zur Verfügung gestellt, in einer weiteren kann eine Pflegeperson leben. "Die brauchen wir aber noch nicht, da wohnt ein Student", lacht Straub.

Ähnlich war es bei "Horizonte". Die Mitglieder dieser Gruppe bewohnen den vierten Gebäuderiegel, der das Carré mit der "Woge" schließt. Auch hier bestand die ursprüngliche Gruppe aus älteren Menschen, doch jetzt wohnen in dem Neubau neben 29 Erwachsenen auch vier Kinder.

Pioniere in MTV waren die "Hagebutze" – sie waren die ersten, die auf das Gelände zogen. Am 11. Februar 2017 bezog Lisa Lepold mit ihrer Familie ihre Wohnung. Damals waren sie die einzigen Menschen auf dem riesigen Areal, das die US-Armee hinterlassen hat, es gab keine Bewohner, nicht einmal die Julius-Springer-Schule um die Ecke war bezogen. "Das war schon manchmal gruselig, wenn man abends alleine nach Hause gegangen ist", erzählt sie. Dafür hatten sie große Freiheiten, veranstalteten Partys und Konzerte. Der Anspruch der "Hagebutze" war es, neben dem gemeinschaftlichen Wohnen bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und die sanierten Bestandsgebäude dem Immobilienmarkt und damit der Spekulation zu entziehen. So war es auch bei "Konvisionär", deren Mitglieder 2019 in die zweite Hälfte der drei sanierten Bauten einzogen.

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> Die Umsetzung: Für die Pioniere ging es zunächst darum, die Stadtverwaltung von ihrem Projekt zu überzeugen. Um die Interessenvertretung zu bündeln, wurde 2010 "hd_vernetzt" gegründet, ein Zusammenschluss von mehreren Wohnprojekten. Die Verhandlungen mit der Stadt waren nicht immer spannungsfrei, doch schließlich raufte man sich zusammen. Und die Projekte, die später loslegten, profitierten von der Vorarbeit der "Hagebutze" und von "Konvisionär".

Welche Fliesen kommen ins Bad, welcher Boden ins Wohnzimmer? Welche Türklinken nehmen wir, wie soll die Fassade aussehen? Und wie finanzieren wir das Ganze? Solche Entscheidungen sind für Paare oder Familien, die ein Haus bauen, schon stressig. Richtig hart wird es, wenn 80 oder mehr Menschen solche Fragen entscheiden müssen – und zwar einstimmig. Da sind zähe Diskussionen programmiert, es braucht wöchentliche Treffen, viel Engagement und Durchhaltevermögen. "Die sieben Plagen" nennt Ute Straub den Prozess rückwirkend mit einem Schmunzeln. Wenn alles entschieden ist, geht es an den Bau oder die Sanierung – mit allen Katastrophen und Überraschungen, die das so mit sich bringt: Wasserschäden, die den Einzugstermin sprengen, Bausubstanz, die schlechter ist als gedacht, Eigenleistungen, die mehr Zeit in Anspruch nehmen.

In dieser Phase gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Projekten. Die "Hagebutze" etwa sanierte nur das Nötigste: "Die Fenster und das Parkett haben wir dringelassen. Wir wollten möglichst schnell einziehen", berichtet Maria Busemann. Auch die Bäder wurden nicht erneuert, neue Leitungen über dem Putz verlegt. Auf Balkone hat man bewusst verzichtet. "Wir wollten damit erreichen, dass der Garten richtig genutzt wird", so Busemann. Außerdem wurde viel in Eigenleistung gemacht. Ähnlich ging "Konvisionär" vor, die sich jedoch für Balkone entschied. Der Lohn der Mühen: Kaltmieten von sechs bis acht Euro pro Quadratmeter – ein nahezu unschlagbarer Wert für diese Lage in Heidelberg. Während bei diesen beiden Wohngruppen die alte Bausubstanz der US-Gebäude noch deutlich zu erkennen ist, sieht der sanierte Bau der "Woge" fast aus wie neu: Das Spitzdach wurde entfernt und das Gebäude aufgestockt, die Fassade neu gestaltet und mit Balkonen versehen.

"Horizonte" ging noch ein wenig anders vor, sie kamen bei der Heidelberger Baugenossenschaft Familienheim unter. Man einigte sich, dass Familienheim als Bauträger die Wohneinheiten für "Horizonte" erstellt. Doch auch da gab es einiges zu verhandeln: "Die ersten Entwürfe von Familienheim waren für uns nicht tauglich: viel zu große Wohnzimmer und keine Gemeinschaftsräume", erzählt Anne Weigand. Die Baugenossenschaft hatte offenbar nach ihrem Standard geplant und die Bedürfnisse des Wohnprojekts nicht ganz verstanden. Also setzte man sich noch einmal zusammen. "Und zwei Wochen später hatten wir neue Entwürfe, die viel besser waren", so Weigand.

Hintergrund

> Die Besitzstruktur bei den vier Projekten ist unterschiedlich. Die meisten Bewohner sind Mieter – und gleichzeitig Eigentümer.

> Bei einem Modell gehört die Immobilie einer GmbH. Diese besteht aus zwei Gesellschaftern, einer ist immer der Verein der Bewohner.

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> Die Besitzstruktur bei den vier Projekten ist unterschiedlich. Die meisten Bewohner sind Mieter – und gleichzeitig Eigentümer.

> Bei einem Modell gehört die Immobilie einer GmbH. Diese besteht aus zwei Gesellschaftern, einer ist immer der Verein der Bewohner. Bei den "Hagebutzen" und beim Projekt "Raumkante", das noch bauen wird, ist die zweite Gesellschafterin eine GmbH des "Mietshäuser Syndikats". Die Initiative ist ein Verbund von über 125 selbstverwalteten Wohnprojekten. Als Mitgesellschafter hat er etwa beim Hausverkauf oder der Umwandlung in Eigentumswohnungen ein Vetorecht.

> Bei "Konvisionär" nimmt die Rolle des zweiten Gesellschafters der "Verein zur Sicherung selbstverwalteter Wohnformen" ein, in dem nicht nur aktuelle Bewohner Mitglied werden können, sondern auch sonstige Interessierte. Sein Zweck ist ebenfalls die Verhinderung des Hausverkaufs und die Förderung von gemeinschaftlichen Wohnformen.

> Bei "Horizonte" ist die Genossenschaft Familienheim der Vermieter. Die Mietergruppe hat durch einen Kooperationsvertrag das Recht, neue Mieter auszusuchen.

> Bei der "Woge"hingegen sind die Mitglieder auch Eigentümer der Wohnungen. Hier kann ein Verkauf nicht grundsätzlich verhindert werden. Allerdings muss ein Mitglied die Gemeinschaft informieren, wenn eine solche Absicht besteht. So kann jemand aus dem Projekt ein Kaufangebot machen. Der Verkäufer ist aber nicht verpflichtet, diesem Menschen den Vortritt zu lassen. ste

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Unterschiede gibt es auch in der Besitzstruktur. Die meisten Bewohner der vier Projekte sind Mieter, aber in unterschiedlichen Modellen. Die Mitglieder der "Woge" sind Eigentümer ihrer Wohnungen.

> Die Gemeinschaft: Das ist es, was die Wohnprojekte ausmacht: dass nicht jeder für sich vor sich hin lebt, sondern der Alltag gemeinschaftlich organisiert wird. Da gibt es Gruppen, die sich um den Garten oder den Müll kümmern und Räume, die alle nutzen können, zum Beispiel eine Holzwerkstatt, ein Näh- und Bastelzimmer, Proberäume oder Ateliers. Wer Gäste hat oder etwas größer feiern will, kann Gemeinschaftsräume nutzen. Bei der "Woge" kochen Freiwillige einen Mittagstisch für Kinder, die aus der Schule und dem Kindergarten kommen.

Einige Projekte stehen nicht nur den Bewohnern, sondern allen Nachbarn offen: Seit ein paar Wochen werden in der Kooperative "Tante Rübe" bei "Konvisionär" haltbare Lebensmittel aus der Region verkauft. Dort ist auch eine öffentliche Fahrradwerkstatt geplant. "Sie wird bereits intern genutzt, die Öffnung für alle wurde durch Corona etwas ausgebremst. Wir haben es aber auf jeden Fall vor", sagt Felix Schacht. Dazu gibt es öffentliche Veranstaltungen wie Konzerte, Lesungen oder Kleinkunst, bei den "Hagebutzen" finden die sogar auf einer Open-Air-Bühne statt.

> Die Hagebutzen: "Wir sind alle aus Überzeugung hier. Und wir wollen, dass noch mehr Menschen so leben können", sagt Ute Straub. Die Nachfrage sei weiter hoch, aber bei den vier Projekten in der Rheinstraße sind alle Wohnungen belegt. Manche führen eine Warteliste, andere nicht. Die "Hagebutze" bietet einen regelmäßigen Beratungsstammtisch an. Auch bei "Horizonte" gebe es viele Nachfragen nach ihrem Modell, berichtet Anne Weigand. Darum strebt "hd_vernetzt" bei der Beratung von Interessenten eine Kooperation mit der Stadt an. Denn offenbar gibt es in Heidelberg immer mehr Menschen, die wirklich zusammen leben wollen.

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