Heidelberg

Hunger, Bomben und fliegende Standgerichte

Eine Führung durch die Altstadt wandelt auf den Spuren der letzten Kriegstage in Heidelberg. Am Karfreitag 1945 wurde die Stadt befreit.

13.04.2022 UPDATE: 15.04.2022 06:00 Uhr 3 Minuten, 30 Sekunden
Die Amerikaner am Neuenheimer Neckarufer: An Karfreitag, 30. März 1945, überquerten sie den Fluss in Richtung Altstadt. Foto: Stadtarchiv

Von Manfred Bechtel

30. März 1945, Karfreitag: Die US-Armee rückt kampflos in Heidelberg ein. Über die letzten Kriegstage vor der Befreiung erzählte Sebastian Klusak jetzt bei der Altstadt-Führung "Zwischen Luftschutzraum und Standgericht", die von der Evangelischen Erwachsenenbildung angeboten wurde. Die RNZ war dabei.

Vor der Alten Universität stimmt Klusak die Teilnehmer mit dem historischen Lagebild ein: Alle Anstrengungen sind in diesen Märztagen des Jahres 1945 auf das Überleben gerichtet, von der Front kommen die Nachrichten über Verwundete und Gefallene. Nahrungsmittel gibt es gegen Lebensmittelkarten, aber das reicht nicht, die meisten hungern. Die zahlreichen Lazarette in der Stadt sind voller Verletzter. Weil sich die Front nähert, schließen am 21. März die Schulen. Am 27. März, dem Dienstag der Karwoche, erobern die Amerikaner Viernheim.

An der Rückseite der Alten Universität, in der Augustinergasse, ist die nächste Station: Dort ist in die Hausmauer eine Stahltür mit Hebeln zum Öffnen eingelassen. Das ist in der Kriegszeit der Zugang zu einem Luftschutzraum, hier suchen Menschen Schutz bei Bombenalarm. "Die Luftangriffe beginnen schon relativ früh, die ersten 1940 bei Kriegseintritt der Engländer", berichtet Klusak. Sie intensivieren sich 1944 mit dem Verlust der deutschen Lufthoheit. Seit Dezember 1944 nehmen sie noch einmal zu.

Günther Berger vom Stadtarchiv konnte mindestens 70 Bombenabwürfe und Jagdfliegerattacken nachweisen. Bombentreffer gibt es in Heidelberg an den Bahnstrecken, aber auch im Wohngebiet; sie fordern zahlreiche Menschenleben, mehr als 300 Gebäude werden beschädigt, 13 total zerstört. Dem Angriff auf die OEG-Neckarbrücke am 22. März 1945 fällt auch fast der gesamte Tiergarten zum Opfer. Am 23. wird der Güterbahnhof bombardiert. "Da heißt es doch immer, dass gar keine Bomben gefallen wären", wundert sich ein Teilnehmer der Führung – und bringt die Erzählung von den amerikanischen Flugblättern ins Gespräch, denen zufolge Heidelberg verschont werden sollte. Klusak: "Dafür gibt es keinen Beleg."

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Eine Ecke weiter, in der Kettengasse, macht die Gruppe wieder Halt. In dem barocken Gebäude, das eine ganze Straßenfront einnimmt, ist damals die "Oberrealschule" (später "Helmholtz-Gymnasium") untergebracht. Einer der Schüler war Albert Speer, Hitlers Lieblingsarchitekt, Rüstungsminister und maßgeblicher Mit-Organisator des Dritten Reichs. Noch in diesen Märztagen besucht er seine Eltern im Schloß-Wolfsbrunnenweg.

Gleich rechts um die Ecke in der Seminarstraße 3 ist das Romanische Seminar. Bis 1968 sind hier Amts- und Landgericht untergebracht, im Zweiten Weltkrieg auch die Militärgerichtsbarkeit. Im März 1945 sucht Hans Boetticher, Richter im Rang eines Generals, die hiesigen Militärrichter heim. Der Historiker Frank Moraw, der über diese Tage viel geforscht hat, berichtet von "einem der empörendsten Vorgänge": Nach Boettichers Auffassung urteilten die Heidelberger Richter zu milde – im Osten habe man Fahnenflüchtige zur Warnung an den Oderbrücken aufgehängt, damit habe man gute Erfahrungen gemacht. Er kanzelt die hiesigen Kollegen ab, unterstellt Sabotage und bedroht sie.

Um seinen Forderungen Taten folgen zu lassen, hat er ein "Fliegendes Standgericht" mitgebracht. In der Nacht zum Palmsonntag tritt es in der Gaststätte "Zum Auerhahn" in der Römerstraße zusammen. Noch in der Nacht werden vier oder fünf junge Soldaten aufgegriffen, ohne längeres Verhör verurteilt und durch Schüsse in die Schläfe hingerichtet. Danach werden sie mit auf den Rücken gebundenen Händen an markanten Punkten – nachweislich beim Bergfriedhof und im Norden Handschuhsheims – aufgehängt. Zwei der Opfer liegen auf dem Ehrenfriedhof begraben. Im Gegensatz zu diesen Taten steht das dokumentierte Handeln eines Militärrichters, der einem Standgericht einen Fall wieder entzog und die Verhandlung auf die Zeit nach Kriegsende vertagte. "Was ist mit Boetticher nach dem Krieg passiert?", will jemand aus der Runde wissen. Klusak: "Nichts. Der wurde nach dem Krieg Rechtsanwalt in München und starb 1988."

Beinahe kommt in diesen letzten Märztagen noch die Peterskirche zu Schaden – ohne Bombardierung. In der nahe liegenden NS-Kreisleitung werden – wie auch bei Oberbürgermeister Carl Neinhaus im Rathaus – in aller Eile Akten verbrannt. Durch heftigen Funkenflug fängt der Dachstuhl der Kirche Feuer.

Schließlich berichtet Klusak von der glücklichen Befreiung Heidelbergs: Sie hängt am Gründonnerstag buchstäblich an einem Telefonkabel. Über eine intakt gebliebene Telefonleitung der Stadtwerke Mannheim übermitteln die Amerikaner aus Käfertal ihre Forderung ins Rathaus: Übergabe der Stadt und Entsendung von Parlamentären. Auf deutscher Seite verzögert sich die Zusammensetzung der Delegation. Mit Verspätung machen sich die Parlamentäre am späten Abend mit weißer Fahne auf den Weg. Sie überqueren den Neckar in nördlicher Richtung, fahren durch die beeindruckende Streitmacht, welche die Amerikaner aufgefahren haben. Dann verhandeln sie im Divisionshauptquartier in Lampertheim.

Die Deutschen wollen für Heidelberg die Anerkennung als Lazarettstadt erreichen. Darauf lassen sich die Amerikaner nicht ein; sie fordern bedingungslose Kapitulation. Dazu wiederum sind die Emissäre nicht befugt. Sie treten den Rückweg an. "Darüber, ob sich die beiden Parteien in der Nacht auf eine Vereinbarung geeinigt haben, gibt es unterschiedliche Berichte", sagt Klusak. Als sie in Neuenheim an den Neckar kommen, sind mittlerweile sämtliche Brücken gesprengt. In einem Faltboot paddelt ein mutiges Mädchen die Männer über den Fluss. Früh am folgenden Morgen – es ist Karfreitag, 30. März – stehen die Panzer der Amerikaner am Neuenheimer Neckarufer; um 14 Uhr hat bereits ein komplettes Bataillon den Neckar überquert. Kampflos rücken "die Amis" in die Stadt ein. Zum Glück nehmen sie auch vereinzelten Beschuss durch Unbelehrbare nicht zum Anlass, ihre Geschütze auf die weitgehend unzerstörte Stadt zu richten. In der Hauptstraße, wo unlängst noch Hakenkreuzfahnen wehten, hängen jetzt weiße Tücher in den Fenstern.

"Obwohl der Krieg in Heidelberg noch vergleichsweise unblutig zu Ende ging, waren in den letzten Kriegstagen doch 300 Tote zu beklagen", schreibt Friederike Reutter in ihrem Buch "Heidelberg 1945 – 1949. Zur politischen Geschichte einer Stadt in der Nachkriegszeit".

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