Das "Capitol" brachte den Romhányis kein Glück
Die Besitzer des "schönsten Theaters Süddeutschlands" wurden von den Nationalsozialisten vertrieben. 1953 wurde es zum zweiten Mal eröffnet.

Heidelberg. (bec) Seit 1996 gibt der Heidelberger Geschichtsverein das "Jahrbuch zur Geschichte der Stadt" heraus. Die RNZ veröffentlicht in den kommenden Wochen einzelne Beiträge aus dem frisch erschienenen Jahrbuch 2022 in gekürzter und redaktionell bearbeiteter Form. Heute geht es um das Schicksal von Jenö und Erna Reich und die Geschichte des "Capitols", die Thomas Somló erforscht hat.
Am 6. Oktober 1927 eröffnete in der Bergheimer Straße Heidelbergs erstes Großkino. Sein Name: "Capitol". Es war ausgestattet "mit 1305 polizeilich genehmigten Sitzplätzen, ferner mit einer Bühne, einer Orgel und allem sonstigen Komfort einschließlich Fahrstuhl, Artisten- und Künstler-Garderoben für Varieté-Aufführungen" und bot dem Publikum die "modernsten Errungenschaften der Filmtechnik". Betrieben wurde das neue Lichtspieltheater von dem Unternehmerehepaar Eugen und Erna Reich.

Jenö Reich wurde 1880 in der Kleinstadt Szikszó in Ungarn geboren. Nach seiner Ausbildung zum Holzbildhauer in Budapest lebte und arbeitete er ab 1910 in Frankfurt am Main. Den ungarischen Vornamen Jenö ersetzte er während seiner Jahre in Deutschland für gewöhnlich durch das deutsche Pendant Eugen. In Frankfurt lernte er Erna Sauer kennen, eine ausgebildete Kunstgewerblerin und Kunstmalerin. Vor der Heirat konvertierte der Jude Jenö zum Christentum. Im Oktober übersiedelte das Ehepaar nach Heidelberg. In der Steingasse 4 eröffneten sie eine Kunst- und Altertümerhandlung, hinzu kam eine Schreinerei, aus der sich im Laufe weniger Jahre eine Möbelfabrik mit hundert Angestellten entwickelte. Im Ersten Weltkrieg diente Jenö in den österreichisch-ungarischen Streitkräften.
Gleich nach dem Krieg erwarb er das Anwesen Bergheimer Straße 59 mit dem Hinterhaus Nr. 61, um hochwertige Möbel zu produzieren. Diese Unternehmung gab das Ehepaar Reich 1926 auf, um das erste Großkino Heidelbergs zu bauen. Die Firma hieß jetzt "Capitol-Lichtspieltheater Eugen Reich". Fast von Beginn hatte das Projekt mit Finanzproblemen zu kämpfen. Hinzu kam, dass sich die gesamtwirtschaftliche Lage verschlechterte, mit der steigenden Arbeitslosigkeit sank die Zahl der Besucher.
Über allem lastet eine erbitterte Fehde. Gegner war der Eigentümer der Lichtspielhäuser "Schloss" und "Gloria", Artur Kusch. Über viele Jahre hinweg befeuerten Beleidigungen, ein "Inseratenkampf" und juristische Auseinandersetzungen die Rivalität. "Kusch verfolgte uns vom ersten bis zum letzten Tage", erinnerte sich Erna nach dem Krieg.
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Die ab 1933 zunehmenden antisemitischen Restriktionen in Deutschland trafen die Familie mit voller Wucht. Ihr Theater boykottierte man als "Judenbetrieb", es folgten Diskriminierungen mit Plakatanschlägen wie "Deutsche wegbleiben", hinzu kamen Störungen der Vorstellungen oder das Vorenthalten von Filmen. Die Hetzkampagne Artur Kuschs erhielt jetzt zusätzlich einen offen antijüdischen Ton. Die Schikanen ließen auch nicht nach, als Jenö die Leitung des Unternehmens an seine "arische" Ehefrau übergab. Erna weigerte sich, in eine Scheidung einzuwilligen und Jenö aus dem Grundbuch zu streichen. Im September 1933 legte sich, zumindest von staatlicher Seite, der Druck etwas, als sich ihr Ehemann einer weiteren Forderung beugte und sich für die Emigration nach Ungarn entschied. Um jeden weiteren Angriffspunkt zu vermeiden, führte Erna das "Capitol" zum Schein gemeinsam mit ihrem Bruder Oskar Sauer. In einem Klima von Schikanen, öffentlicher Hetze und Boykott brachen die Besucherzahlen ein; die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich derart, dass eine Zwangsverwaltung nur mit Mühe abgewendet werden konnte.

Ab 1935 trugen die Reichs den magyarisierten Nachnamen "Romhányi". Sie waren mittlerweile eine kleine Familie mit zwei Söhnen, alle Familienmitglieder waren evangelisch getauft. Die Söhne überlebten die Nazizeit nicht. Rudolf, 1911 in Heidelberg geboren, sollte einmal den elterlichen Betrieb übernehmen. Nach einer Vernehmung durch die Geheime Staatspolizei wurde er 1943 in "Schutzhaft" genommen und als "aufsässiger Judenlümmel" aus dem Heidelberger Amtsgefängnis in das KZ Dachau übergeführt und schließlich nach Ungarn abgeschoben. Seine Mutter wurde zur Ausreise gezwungen. In Budapest traf Rudolf 1944 vor der eigenen Wohnung ein tödlicher Bauchschuss. Nach Zeugenaussagen war er von Schergen des ungarischen Pfeilkreuzler-Regimes und deutschen Soldaten auf dem Heimweg von der Arbeit angehalten worden.
Sein 1920 geborener Bruder Ludo wollte Chemie studieren. Wie alle Familienmitglieder war er ungarischer Staatsangehöriger, daran wäre fast schon die Aufnahme des Studiums gescheitert. Es folgte eine Reihe erzwungener Unterbrechungen und Schikanen, das Aus kam, als vor dem Staatsexamen seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert wurde. Drei Monate vor seinem 23. Geburtstag nahm sich Ludo in der Bergheimer Straße 61 das Leben.
Das Lichtspielunternehmen musste zwangsweise an die "Deutsche-Film Theater Gesellschaft mbH" in Berlin verpachtet werden, ihr privates Eigentum mussten die Romhányis zurücklassen. In Budapest führten sie ein "vollkommen mittelloses" Leben, die vertraglich festgesetzten Zahlungen der Pächter-Gesellschaft blieben aus. Nach Kriegsende gelang es den beiden, die ungarische Grenze illegal zu überqueren und am 26. Oktober 1945 nach Heidelberg zurückzukehren. Dort hatte allerdings ihr Erzrivale Artur Kusch die Übernahme des "Capitol" bereits in den Jahren zuvor angestrebt. Jetzt war die Intention, das zermürbte Ehepaar als Sympathisanten und Profiteure des Nationalsozialismus zu diffamieren. Mit diesem Vorwurf sollte eine Spruchkammer die Romhányis als "Belastete" einstufen, wodurch ihre parallel verlaufenden Verhandlungen um Wiedergutmachung und Entschädigung torpediert und ihr Anspruch auf Rückerstattung des "Capitol" angefochten werden sollten.
"Unser Leid, unsere zwei Kinder verloren zu haben, reichte noch nicht aus, es hagelte an Anzeigen, Beschuldigungen und politischen Treibereien […]. Jetzt seit wir hier sind, haben wir keinen friedlichen Augenblick mehr im Leben, wir sind Verfolgte nach wie vor, nur früher denunzierte man uns bei den Nazis, und heute bei der Militärregierung", so Erna in einem Dokument vom 28. Januar 1948.
Die zahlreichen Beweise gegen die fast schon absurden Anschuldigungen waren jedoch eindeutig, so dass man 1949 beide von der Anklage freisprach. Es sollte noch vier Jahre dauern, bis der Familie das von den US-Besatzungsbehörden beschlagnahmte "Capitol" freigegeben wurde. 1953 wurde das Kino zum zweiten Mal eröffnet. Ab Mitte der 60er-Jahre sanken die Besucherzahlen, 1971 ging der Vorhang zum letzten Mal auf. Der Gebäudekomplex wurde verkauft und abgerissen.
Info: Thomas Somló: Möbelfabrikanten, Kinobesitzer, Verfolgte des NS. Zur Geschichte der Familie Romhányi (Reich) in Heidelberg. In: Jahrbuch zur Geschichte der Stadt, hg. vom Heidelberger Geschichtsverein, Nr. 26/2022, Kurpfälzischer Verlag, S. 95 – 110.



