Wie Erwin Goldner vor den Nazis flüchtete und zum Gespött wurde
Dem Außenseiter wurde auch in der Nachkriegszeit das Leben schwer gemacht. Rückzugsorte fand er in den Altstadtgassen.

Heidelberg. (bec) Seit 1996 gibt der Heidelberger Geschichtsverein das "Jahrbuch zur Geschichte der Stadt" heraus – mit Aufsätzen zur Stadtgeschichte, Topografie, Baugeschichte und Denkmalschutz sowie Berichten zu Quellenfunden, Institutionen und Ausstellungen. Die RNZ veröffentlicht in den kommenden Tagen und Wochen einzelne Beiträge aus dem frisch erschienenen Jahrbuch 2022 in gekürzter und redaktionell bearbeiteter Form. Den Aufakt macht das Schicksal des "Stadtoriginals" Erwin Goldner.
Als auffälliger Außenseiter war er in den 1950er bis in die 1970er Jahre hinein Teil des Heidelberger Stadtbildes, sichtbar vor allem am Bismarckplatz: eine hagere Gestalt, nach vorne gebeugt, nach links gekrümmt, in einen langen, schäbigen Mantel gehüllt, einen Packen Zeitungen oder Zeitschriften unter dem Arm. Wollte er diese wirklich verkaufen oder eher Almosen erbetteln? Aus seinem mühevollen langsamen Gang schreckte er nur dann auf, wenn ihn Jugendliche mit dem Wort "Stürmer" verspotteten. Er drohte ihnen und versuchte vergeblich, sie zu verfolgen. Wenig wusste man bislang von ihm. Reinhard Riese konnte mithilfe der Jüdischen Gemeinde seinen Namen ermitteln: Erwin Goldner.
Erwin Goldner wurde am 13. September 1906 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren und wuchs in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Nach der Schule war er bis März 1938 im Geschäft seines Vaters mit der Buchhaltung beschäftigt. Er wollte Vorbeter in der Talmudschule oder Privatlehrer für hebräische Sprache werden. Der Einmarsch der deutschen Truppen und der "Anschluss" Österreichs am 12./13. März 1938 veränderten die Lage der "nicht-arischen" Bevölkerung von einem Tag auf den anderen. Auch Goldner wurde arbeitslos, in seinen Pass wurde ein "J" gestempelt. Die Hausverwaltung kündigte die Wohnung.
Die Ausschreitungen in der Pogromnacht, Plünderungen, Verhaftungen, Einlieferungen ins Konzentrationslager und andere Willkürmaßnahmen zeigten, wie bedroht das Leben jüdischer Menschen war. Goldner wurde geschlagen, auf Rücken und Hinterkopf blieben Narben. Es war erklärtes Ziel der NS-Führung, diese Menschen aus dem Land zu vertreiben. Die Goldners entschlossen sich, Österreich zu verlassen. Wegen der restriktiven Einwanderungspolitik von möglichen Aufnahmeländern wie den USA, Kanada und Großbritannien blieb als letzte Rettung Shanghai, ein international verwaltetes Territorium mit 6,5 Millionen Einwohnern und eines der größten Handelszentren der Welt. Für die Einreise genügte der Reisepass.
Auf einem Passagierschiff traten die Goldners in Genua die Reise ins Ungewisse an. In Shanghai wurden die allermeisten Ankömmlinge zunächst auf Flüchtlingsheime verteilt; primitive Notunterkünfte, in denen sie – getrennt nach Frauen und Männern – in Massenschlafsälen ohne jede Privatsphäre lebten. Verpflegt wurden sie in Armenküchen, finanziert von jüdischen Gemeinden und Hilfsorganisationen. Die gesundheitlichen Risiken waren groß: Das ungewohnte Klima mit hoher Luftfeuchtigkeit, Unterernährung, Schmutz, Seuchen, Tropenkrankheiten und Ungeziefer belasteten die Flüchtlinge. Bis 1945 starb schätzungsweise jeder zehnte Flüchtling. Auch Goldners Eltern haben das Kriegsende nicht erlebt. Der Sohn erinnert sich: "Die Verhältnisse waren derartig schlecht, dass meine Eltern im Jahre 1943 verhungerten. Zuerst verstarb der Vater und sechs Wochen später die Mutter. Der Vater war 72 und die Mutter 70 Jahre alt. Ich selbst wurde im Lager sehr schwer krank und lag im Sterben. Meine Eltern gaben mir ihre letzten Rationen noch, um mich am Leben zu erhalten."
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Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour im Dezember 1941 verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Flüchtlinge in Shanghai weiter, denn jetzt besetzten japanische Truppen die ganze Stadt. Die Hilfslieferungen und Zahlungen aus Amerika waren unterbrochen. In den Suppenküchen konnte nur noch eine statt bisher zwei "Mahlzeiten" ausgegeben werden. Die meisten litten an Hunger und Unterernährung. Am 14. August 1945 kapitulierten die japanischen Besatzungstruppen in Shanghai. Nach dem Einmarsch der US-Soldaten wurden die Flüchtlinge ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt und Hoffnung auf eine baldige Weiterreise keimte auf.
Freilich waren die Westmächte nach Kriegsende vordringlich damit beschäftigt, die Probleme in Europa anzugehen. Viele mussten in Shanghai noch bis 1949 auf eine Ausreisemöglichkeit in die USA, Kanada, England, Australien oder Israel warten. Wer trotz aller Vorbehalte nach Europa zurückkehren wollte, hatte etwas mehr Glück. So reiste Erwin Goldner am 16. Januar 1947 mit dem ersten Rücktransport: Drei Wochen waren 767 Passagiere auf einem amerikanischen Truppentransporter nach Neapel unterwegs; es folgte eine einwöchige Bahnfahrt nach Wien in Güterwaggons.

In Wien fasste Erwin Goldner nur schwer wieder Fuß. Er blieb ohne Verdienstmöglichkeit und lebte vorübergehend in einem Obdachlosenasyl. Die Folgen des Exils machten ihm sehr zu schaffen. Wegen Hungerödemen, Stoffwechsel- und Kreislaufstörungen musste er stationär behandelt werden. "Trotz reichlichster Ernährung leidet Patient dauernd an schwerem Hungergefühl und es gelingt nicht, auch nur bescheidene Gewichtszunahmen zu erzielen", heißt es über seine Behandlung – ein Symptom, das ihn auch in späteren Jahrzehnten nicht verließ. Heimat und Unterstützung fand er bei der Jüdischen Gemeinde, für die er als Synagogenvorbeter tätig war.
Wohl in der Jüdischen Gemeinde lernte Goldner die in Heidelberg geborene Johanna Maria Allgeier kennen, die beiden heirateten 1950. In Heidelberg hatten die Adoptiveltern der Ehefrau über eine Bleibe verfügt, einen zur Wohnung ausgebauten Keller im Schloß-Wolfsbrunnenweg 25. Das Ehepaar zog nach Heidelberg und war ab 1952 zur Untermiete in einem winzigen Zimmer in der Bussemergasse 16 gemeldet. Sie schlossen sich der Jüdischen Kultusgemeinde an, Erwin Goldner wurde wieder Vorbeter. Als die US-Armee das beschlagnahmte Haus Schloß-Wolfsbrunnenweg 25 freigab, konnte das Ehepaar 1955 die Kellerwohnung beziehen. Nach dem Tod der Eigentümerin wurde das Haus verkauft, und sie bezogen 1972 eine Sozialwohnung im Hasenleiser. Zu Beginn hatte Erwin Goldner versucht, als Zeitungsverkäufer den Lebensunterhalt zu verdienen. Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes musste er diese Tätigkeit aber bald aufgeben. Er hatte eine kleine Rente, hinzu kamen für das Ehepaar Sozialhilfe und Mietzuschuss.
Als körperlich, seelisch und mental versehrter Mensch fiel Erwin Goldner damals im Heidelberger Stadtbild auf. Wie reagierten die Vorbeigehenden auf ihn? Die allermeisten zeigten kein Mitleid und taten so, als sei er gar nicht vorhanden, oder verscheuchten ihn, wenn er ihnen zu nahe kam. Zu einem Sonderling wie ihm scheuten sie jeglichen Kontakt, wenn er ihnen Zeitungen zum Verkauf anbot oder sie anbettelte. 1952/53, als er in besonderer Not war, wurde er zweimal wegen Bettelns zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt. Den Erwachsenen war bewusst, dass Goldner als Jude in der NS-Zeit verfolgt worden war und gelitten hatte. Man mutmaßte, er sei im KZ gewesen und dort misshandelt worden. Wenn ihn Jugendliche mit Schmähungen ("Adolf Hitler – Moskau brennt") und "Stürmer"-Rufen reizten, fand sich niemand, der sie zurechtwies und ihnen sagte, was "Der Stürmer" tatsächlich gewesen war: ein antisemitisches Hetzblatt der Nazis. An jene "unseligen" Jahre des NS-Regimes und die eigene Vergangenheit wollte die Mehrzahl der Menschen nicht erinnert werden – umso schlimmer, wenn ein Mann allein durch sein Erscheinungsbild diesen Verdrängungsprozess störte.
Goldners Charakter wird allgemein als friedlich beschrieben. Wenn er an die Zeit der NS-Verfolgung erinnert und verspottet wurde, konnte er aber jähzornig werden. Auch konnte er sich nicht deutlich artikulieren. Sein linkes Auge war infolge einer Netzhautablösung erblindet. 1955 diagnostizierte der Amtsarzt eine "gewisse Geistesschwäche". Ein "verstörendes Bild" habe er beim gemeinsamen Essen in der Jüdischen Gemeinde abgegeben, berichtete ein Zeuge, weil sein Essverhalten noch Jahrzehnte nach den Hungerjahren völlig ungezügelt war.
Dass die Goldners "reich" waren, ein "Haus" und einen "Daimler" besaßen, gehört in das Reich der Legenden, die im Umlauf waren. Das Gerücht über den Hausbesitz könnte daher rühren, dass sich die Heidelberger unter der Adresse Schloß-Wolfsbrunnenweg nur eine Villa vorstellen konnten.
Rückzugsorte fand Erwin Goldner in den Altstadtgassen rund um den Marktplatz. Hier wurde er manchmal zu einer Geburtstagsfeier oder einem Kaffee eingeladen. Abends fand er sich in einer der Altstadtkneipen ein, wo er bald vor Erschöpfung einschlief: am häufigsten im Eiscafé "Livio" an der Ecke Hauptstraße/Krämergasse, das bis spät in die Nacht geöffnet war. Hier hat ihn der Maler Walter Böckh im Jahre 1960 skizziert. Die "einfachen Leute" in der Altstadt kümmerten sich aus Mitleid und Empathie eher um den Sonderling als die geschäftigen Passanten am Bismarckplatz.
Nach dem Tod seiner Frau zog Erwin Goldner in das Marie-Luisen-Altersheim in der Bienenstraße 2, wo er betreut wurde. Die letzte Zeit verbrachte er im Frommelhaus in der Plöck 45. Hier verstarb er im Alter von 82 Jahren am 13. Dezember 1988. Die Jüdische Kultusgemeinde gedachte seiner in einer Traueranzeige; die Grabplatten für Erwin und Johanna Goldner sind noch heute im jüdischen Teil des Bergfriedhofs zu finden.
Info: Reinhard Riese: Wien – Shanghai – Heidelberg. Das Schicksal eines Verfolgten und Außenseiters. In: Heidelberg: Jahrbuch zur Geschichte der Stadt, Nr. 26/2022, Kurpfälzischer Verlag Heidelberg, S. 137 – 152.