Der Traum von einem ganz normalen Leben
15 Jahre war Dawit Gebremeskel alt, als er allein aus Eritrea floh. Nun macht er eine Ausbildung beim Weinheimer Familienkonzern Freudenberg.

Dawit Gebremeskel übt das Bedienen elektrischer Steuerelemente: Der 19-Jährige wird Elektroniker für Betriebstechnik. Foto: Kreutzer
Von Barbara Klauß
Weinheim. Dawit Gebremeskel will eine Zukunft, ein ganz normales Leben. Und er ist auf dem besten Weg. Beim Weinheimer Konzern Freudenberg steht der 19-Jährige in einer Lehrwerkstatt und übt mit konzentriertem Blick das Bedienen elektrischer Steuerelemente. Hier wird der junge Mann aus Eritrea seit September zum Elektroniker für Betriebstechnik ausgebildet. Vor viereinhalb Jahren noch war diese Normalität nichts als ein Traum. Damals floh er, gerade einmal 15 Jahre alt, allein aus seiner Heimat.
Eritrea ist ein Land im Nordosten Afrikas, repressiv regiert, das bis vor kurzem einen blutigen Grenzkrieg mit Äthiopien führte. Menschenrechtsorganisationen werfen dem Staat schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen vor. Aus keinem anderen afrikanischen Land fliehen so viele Menschen nach Deutschland. Rund 54.000 Eritreer suchten hier laut Ausländerzentralregister (AZR) Ende 2017 Schutz, gut 70 Prozent der Asylanträge werden anerkannt.
"In Eritrea hat man keine Zukunft", sagt Dawit Gebremeskel leise. "Das Leben ist nicht einfach." Natürlich sei es schwer gewesen, die Familie, das Zuhause zu verlassen. Aber er sah keinen anderen Weg. Außer seiner Mutter weihte er niemanden ein.
Knapp und sachlich schildert der junge Mann, wie er über Äthiopien und den Sudan nach Libyen kam. Zwei Wochen hing er dort in einem Flüchtlingslager fest, bevor er von Schleppern durch die Wüste zur Küste gebracht wurde. Mit einem Boot gelangte er nach Sizilien, mit dem Zug über Frankreich nach Deutschland. Nach gut einem Monat war er am Ziel.

Wie Hunderttausende, die zu dieser Zeit ins Land kamen. Ab 2014 stieg die Zahl der Menschen, die Schutz vor Krieg, Verfolgung und Not suchten, stark an. 2015 verzeichnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) fast 900.000 Geflüchtete. Ende 2017 waren 1,7 Millionen im AZR registriert. Verwaltungen waren überfordert, es entbrannten Diskussionen über Willkommenskultur und Integration.
Doch viele Menschen, Organisationen und Firmen setzten sich für die Ankommenden ein. Konzerne legten Programme für Flüchtlinge auf oder boten Praktikumsplätze an, darunter Daimler, BASF, Heidelberger Druckmaschinen, SAP, Roche, Südzucker, Heidelberg Cement. Auch viele kleine und mittlere Unternehmen engagierten sich.
Der Weinheimer Familienkonzern Freudenberg rief die damals rund 40.000 Mitarbeiter zu Spenden auf, gut 650.000 Euro kamen so zusammen. Familie und Eigentümer legten etwas drauf, sodass insgesamt rund drei Millionen Euro für die Integration von Flüchtlingen zur Verfügung standen. Unter anderem wurde ein Ausbildungszentrum in Indien gebaut.
Vor allem aber wollte der Konzern die überwiegend jungen Menschen hier in Arbeit bringen. Es entstand ein Programm, das 2016 startete: Geflüchtete, die die Berufsschule besuchen, können vier Mal ein zweiwöchiges Praktikum bei Freudenberg machen. So lernen sie das Unternehmen kennen - und das Unternehmen sie. Dabei gehe es weniger um Fachliches, erklärt Ausbildungsleiter Rainer Kuntz. Man wolle vor allem sehen, ob jemand interessiert, fleißig und pünktlich sei. Wer sich bewährt, hat eine Chance auf einen Ausbildungsplatz. Im Jahr 2017 begannen die ersten vier eine zweijährige Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer. Derzeit läuft die dritte Praktikumsphase.
Bei den Programmen der Unternehmen ist häufig die Rede von gesellschaftlicher Verantwortung - und von fehlenden Fachkräften. Einer Bertelsmannstudie aus der vergangenen Woche zufolge braucht der deutsche Arbeitsmarkt mindestens 260.000 Zuwanderer pro Jahr.
Hintergrund
Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung läuft die Arbeitsmarkt-Integration von Geflüchteten besser als erwartet.
Die Beschäftigungsquote von Menschen aus den wichtigsten Asylherkunftsländern (Syrien, Afghanistan, Pakistan, Iran, Irak, Somalia, Nigeria und
Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung läuft die Arbeitsmarkt-Integration von Geflüchteten besser als erwartet.
Die Beschäftigungsquote von Menschen aus den wichtigsten Asylherkunftsländern (Syrien, Afghanistan, Pakistan, Iran, Irak, Somalia, Nigeria und Eritrea) lag im November 2018 bei 32,7 Prozent; für Deutsche bei 69,4 Prozent. Rund 370.000 Menschen aus diesen Ländern haben laut Bundesagentur für Arbeit zurzeit hierzulande einen Job. Das sind 100.000 mehr als im Jahr zuvor, 275.000 mehr als im Oktober 2016; 300.000 sind sozialversicherungspflichtige Stellen, 70.000 Mini-Jobs.
Die Arbeitslosenquote lag im November 2018 bei 33,4 Prozent und damit 7,6 Prozentpunkte niedriger als im Vorjahresmonat.
Von den Geflüchteten mit sozialversicherungspflichtigem Job arbeitete Mitte 2018 laut Bundesagentur fast die Hälfte als Helfer, etwa in Reinigung oder Logistik.
Die Ausbildung: Von Oktober 2017 bis September 2018 suchten laut Arbeitsagentur 38.300 junge Menschen, die nach Deutschland geflüchtet waren, mit Unterstützung einer Agentur für Arbeit oder eines Jobcenters eine Berufsausbildung. Bis September 2018 fanden 91 Prozent der gemeldeten Bewerber mit Fluchtkontext eine Ausbildungsstelle oder eine Alternative. Im März 2018 - aktuellere Daten liegen noch nicht vor - befanden sich in Deutschland gut 28.000 Menschen aus den Hauptherkunftsländern in einer sozialversicherungspflichtigen Berufsausbildung - 14.000 mehr als im Jahr zuvor.
Neben Pflege, Gesundheit und einigen Handwerksberufen gibt es einen hohen Bedarf in der Landwirtschaft, in der Logistik und im Bahnverkehr. In unserer alternden Gesellschaft werde das Angebot an Arbeitskräften ohne Migration bis zum Jahr 2060 um fast ein Drittel schrumpfen, heißt es in der Studie. Um den Bedarf zu decken, würden auch Migranten aus Nicht-EU-Ländern immer wichtiger. Doch deren Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht immer einfach.
Eines der größten Probleme: Viele Geflüchtete sprechen bei ihrer Ankunft kein Deutsch. So auch Dawit Gebremeskel. Im Sommer 2014 landete er in Frankfurt in einer Flüchtlingsunterkunft. Acht Monate lang lebte er dort und besuchte einen Sprachkurs. "Am Anfang war es nicht einfach", sagt er. Aber mit der Zeit wurde es immer besser. Heute stellt die Sprache für ihn kein Hindernis mehr dar.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit bezeichnete Sprachkenntnisse in der vergangenen Woche als entscheidenden Faktor für die Integration in den Arbeitsmarkt - und bescheinigte den Geflüchteten insgesamt Fortschritte.
Auch Freudenberg unterstützt die Auszubildenden beim Sprache-Lernen. Während des Praktikums gibt es jeden Morgen Deutschunterricht. Ein Kollege aus einem höheren Jahrgang steht ihnen bei sprachlichen Problemen zur Seite. Auch sonst hilft das Unternehmen, wo es geht. Andrea Menzel begleitet die Geflüchteten als Mentorin, geht mit ihnen etwa zum Standesamt, um Geburtsurkunden beglaubigen zu lassen, oder hilft auch mal bei der Wohnungssuche. "Manchmal stehen sie hier mit einem Packen Papier unterm Arm und wissen nicht, was sie damit machen sollen", sagt sie.
Hintergrund
Ob ein Flüchtling arbeiten darf, hängt auch von seinem Aufenthaltsstatus ab. Anerkannte Flüchtlinge sind deutschen Arbeitnehmern gleichgestellt. Wenn das Asylverfahren noch läuft oder wenn jemand nur geduldet ist, gibt es hingegen Wartefristen und andere Hürden. So müssen die
Ob ein Flüchtling arbeiten darf, hängt auch von seinem Aufenthaltsstatus ab. Anerkannte Flüchtlinge sind deutschen Arbeitnehmern gleichgestellt. Wenn das Asylverfahren noch läuft oder wenn jemand nur geduldet ist, gibt es hingegen Wartefristen und andere Hürden. So müssen die Ausländerbehörden und die Arbeitsagentur zustimmen. Ausnahmen gibt es etwa bei gesuchten Fachkräften, einer staatlich anerkannten Ausbildung oder einer Aufenthaltsdauer von mehr als vier Jahren.
Für die Ausbildung gibt es die Ausbildungsduldung. Das Instrument kommt für Menschen in Frage, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Es gibt ein paar Bedingungen, zum Beispiel dürfen die Betreffenden nicht aus so genannten sicheren Herkunftsländern kommen. Wenn nichts dagegen spricht, können abgelehnte Asylbewerber so eine Ausbildung beginnen. Danach dürfen sie mindestens zwei Jahre im erlernten Beruf in Deutschland arbeiten.
Das Thema Verwaltung sei gerade am Anfang eine große Hürde gewesen, erzählt Ausbildungsleiter Kuntz: "Wenn du fünf Leute gefragt hast, hast du fünf Antworten bekommen." Zwar gibt es Vorschriften, wann Asylbewerber arbeiten oder eine Ausbildung beginnen dürfen. Doch sei auch heute manches noch schwierig - gerade hier im Drei-Länder-Eck zwischen Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz: "Je nachdem, wo der Azubi lebt, ist eine andere Behörde zuständig. Und alle regeln diese Dinge anders."
Eine weitere Herausforderung für Arbeitgeber: Die Geflüchteten bringen sehr unterschiedliche Voraussetzungen mit. Manche waren nie in der Schule, andere haben studiert. Oft können sie ihre Abschlüsse nicht belegen, weil Zeugnisse fehlen. Oder sie sind schwer mit denen in Deutschland vergleichbar.
Dawit Gebremeskel hat in Eritrea die Schule besucht, bis zur neunten Klasse. "Ich war gut", sagt er. Allerdings fehlte er oft, weil er zuhause auf dem Hof helfen musste. Nun, in Deutschland, hat er erst den Hauptschulabschluss und dann die Mittlere Reife gemacht. Er organisierte sich, unterstützt von einem Betreuer, Praktika im Elektrobereich und als Bankkaufmann. "Das lief gut", sagt er. Schließlich bewarb er sich um einen Ausbildungsplatz bei Freudenberg. Das große Industriegelände, das er immer vom Weinheimer Bahnhof aus sah - da wollte er hin. "Unbedingt", fügt er bestimmt hinzu. "Und die Bewerbung war einfach klasse", erklärt der Ausbildungsleiter. Er und seine Kollegen sind beeindruckt von der Zielstrebigkeit des jungen Mannes. Und davon, dass er nie den Mut verloren hat.
Nun ist er also einer von 260 Auszubildenden und Studenten, die gerade bei Freudenberg lernen. 13 von ihnen sind Geflüchtete. Und: "Die Erfahrungen sind sehr positiv", sagt Kuntz. Natürlich habe es bei manchen aus verschiedenen Gründen auch nicht funktioniert. Doch beim Großteil laufe es sehr gut. "Die wollen hier arbeiten. Und die wollen zeigen, was sie können."
Eine positive Zwischenbilanz zieht auch das IAB: Insgesamt laufe die Integration in den Arbeitsmarkt besser als erwartet, heißt es dort. Arbeitsagentur-Chef Detlef Scheele geht davon aus, dass in diesem Jahr 60.000 bis 70.000 geflüchtete Menschen einen Job finden werden. Im Oktober vergangenen Jahres hatten rund 370.000 Menschen aus den wichtigsten Asylherkunftsländern (Syrien, Afghanistan, Pakistan, Iran, Irak, Somalia, Nigeria und Eritrea) hierzulande Arbeit - und damit 100.000 mehr als 2017. Scheele rechnet damit, dass es etwas besser weitergehen werde als in den vergangenen Jahren, wie er kürzlich erklärte. "Ich glaube vor allen Dingen, dass es uns wieder gelingt, viele jugendliche Flüchtlinge in Ausbildung zu bringen."
Dawit Gebremeskel jedenfalls ist einfach nur froh, hier zu sein, seine Ausbildung machen zu können. Wie ist sein Leben heute? "Normal", sagt er und zuckt mit den Schultern. Er lebt in einer Wohnung in Fürth im Odenwald, er spielt im Verein Fußball, als Stürmer. Er geht morgens zur Arbeit und zwei Mal in der Woche zur Abendschule, um die Fachhochschulreife zu machen. "Alles ist gut", sagt er und grinst. Auch wenn er seine Familie vermisst. Doch seine Mutter, mit der er regelmäßig telefoniert, freut sich sehr darüber, dass er heute da ist, wo er ist.