Am Grimm-Denkmal in Hanau wird der Opfer gedacht, ebenso an den Tatorten. Foto: dpa
Von Christine Schultze
Hanau. Auch an diesem heißen Augusttag halten Menschen inne und betrachten die Bilder der Toten. Passanten fotografieren, es wird über die Tat gesprochen. Am Brüder-Grimm-Denkmal in der Hanauer Innenstadt ist der Schock noch immer greifbar, den der rassistische Anschlag vom 19. Februar ausgelöst hat. Der 43-jährige Tobias R. erschoss damals neun Menschen an mehreren Orten in der Stadt. Danach soll er seine Mutter umgebracht haben, bevor er sich selbst tötete. Auch ein halbes Jahr später verstört die Tat. Viele wollen ihre Anteilnahme, ihr Mitgefühl ausdrücken. "Das sollte nicht vergessen werden", sagt etwa Ivo Antignone, der regelmäßig am Grimm-Denkmal ist und einige Minuten hier verweilt.
Gegen das Vergessen macht sich auch Ferdi Ilkhan stark. Seit sechs Monaten sind er, seine Frau und die anderen Mitglieder des Hanauer Ausländerbeirats unermüdlich im Einsatz, um die Menschen zu unterstützen, die in jener Nacht Angehörige verloren haben oder selbst verletzt wurden. Sie organisieren Treffen und Gespräche, empfangen Politiker und Besuchergruppen, helfen bei Behördenangelegenheiten und spenden Trost.
Eines der wichtigsten Anliegen ist Ilkhan dabei, dass aus der Trauer nicht Wut wird, wie er sagt. Denn in der Gruppe der Angehörigen rumort es. Viele kritisieren die Ermittlungsarbeit und verlangen immer deutlicher Antworten. So hatte Tobias R. vor der Tat Pamphlete und Videos mit Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten veröffentlicht. Warum wurde dem nicht nachgegangen? Wie kam der unter Wahnvorstellungen leidende Sportschütze an eine Waffenbesitzkarte, die noch im vergangenen Jahr verlängert wurde?
Diese Fragen lassen auch Armin Kurtovic nicht los, dessen Sohn getötet wurde. Den Behörden wirft er eine "Kette des Versagens" vor, für die niemand zur Rechenschaft gezogen worden sei. Das Waffengesetz sei streng genug – aber im Falle des Täters nicht richtig umgesetzt worden. "Was muss denn noch passieren?", fragt Kurtovic. "Kein Mensch sollte diesen Schmerz fühlen, den ich fühle."
Wie viele Hinterbliebene will er am 22. August bei einer Demonstration der Opfer gedenken, aber auch seinen Unmut zum Ausdruck bringen. "Wir fordern: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen" heißt es in dem Aufruf, der in vielen Schaufenstern und Lokalen ausgehängt ist. Die Kritik richtet sich auch gegen Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU), der versuche, "alles schönzureden", wie Cetin Gültekin, Bruder eines der Getöteten, kürzlich sagte.
Beuth wirbt derweil um Vertrauen und Zusammenhalt. "Wir werden weiter alles daransetzen, dass uns diese schreckliche Terrortat als Gesellschaft nicht spaltet, sondern nur noch stärker eint", erklärt Beuth. Das Land stehe an der Seite der Opferfamilien. Zugleich stellt sich Beuth hinter die Polizei, die noch in der Tatnacht eine umfangreiche Betreuung auf die Beine gestellt habe.
Die Pandemie hat den Opfern zusätzlich zu schaffen gemacht. Psychotherapeutische Hilfe war kaum zu bekommen, weil viele Praxen schlossen, Begegnungen und Gespräche wurden erschwert oder ganz unmöglich gemacht. "Viele Familien haben gar keinen Bezug mehr zu ihrem Alltag", sagt Ilkhan. Es klemme auch bei der Suche nach neuen Wohnungen; die finanziellen Hilfen, etwa für die Kinder der bei dem Anschlag getöteten Mercedes Kierpacz, seien zu gering. Beuth verspricht: "Wir werden sehr zeitnah ein Förderprogramm für Hanau auflegen, um die Betreuung der Hinterbliebenen und Opfer über mehrere Jahre zu verstetigen", kündigt der Minister an.
Für künftiges Gedenken ist ein Mahnmal geplant, in den kommenden Wochen beginnt ein Gestaltungswettbewerb. Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) leitet die Jury gemeinsam mit Hinterbliebenen. Es soll auch Namenstafeln an den Tatorten sowie einen Gedenkort auf dem Hauptfriedhof geben.
Beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe ist über den Stand der Untersuchungen derzeit nicht viel zu erfahren. "Die Ermittlungen dauern an", lässt ein Sprecher lediglich wissen.