Gewaltambulanz Heidelberg

"Wir sind dazu ausgebildet, Gewalt zu erkennen"

2011 gründete Rechtsmedizinerin Prof. Kathrin Yen in Heidelberg die erste "Gewaltambulanz" im Land. Ein kostenfreies Angebot für Gewaltopfer, das dringend gebraucht wird.

25.11.2023 UPDATE: 25.11.2023 06:00 Uhr 5 Minuten, 16 Sekunden
„Wir sehen das ganze Spektrum von milden blauen Flecken bis hin zu Menschen, die schwer verletzt auf der Intensivstation liegen“: ein Arzt und eine Kollegin aus Gewaltambulanz Stuttgart vor dem Röntgenbild eines zwei Monate alten Kindes. Foto: Möbius / Klinikum Stuttgart
Interview
Interview
Kathrin Yen
Ärztliche Direktorin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin

Von Sören S. Sgries

Heidelberg. Die Zahlen sind erschreckend: Rund 700 mögliche Gewaltopfer wird das Team der Heidelberger Gewaltambulanz Ende des Jahres 2023 untersucht haben. Zwei Drittel der Fälle betreffen Frauen und Kinder. Eine Besonderheit des Angebots, das Prof. Kathrin Yen, Ärztliche Direktorin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin, seit 2011 am Universitätsklinikum Heidelberg aufgebaut hat: Hier werden gerichtsfest Spuren gesichert, auch wenn noch keine Anzeige erstattet wurde – und das rund um die Uhr, kostenlos.

Ein Erfolgsmodell, das seit einigen Jahren landesweit "ausgerollt" wird: Am Donnerstag wurde am Klinikum Stuttgart die vierte Einrichtung dieser Art im Südwesten eingeweiht, eine "Außenstelle" der Heidelberger Gewaltambulanz. "An die Täter geht ein klares Signal, dass jede Straftat zur Anzeige gebracht werden kann, auch Jahre nach der Tat", sagte Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne).

Hintergrund

Kontakt zur Gewaltambulanz

Die Heidelberger Ambulanz im Einzugsgebiet Nordbaden ist unter der Telefonnummer 0152/54648393 rund um die Uhr erreichbar. Der Untersuchungsort wird dann fallspezifisch vereinbart.

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Kontakt zur Gewaltambulanz

Die Heidelberger Ambulanz im Einzugsgebiet Nordbaden ist unter der Telefonnummer 0152/54648393 rund um die Uhr erreichbar. Der Untersuchungsort wird dann fallspezifisch vereinbart.

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Im Vorfeld sprach Rechtsmedizinerin Kathrin Yen, die diese Idee 2011 aus der Schweiz nach Heidelberg "importiert" hat, über Bedeutung der Arbeit in der Gewaltambulanz.

Frau Prof. Yen, seit 2011 gibt es die von Ihnen in Heidelberg gegründete Gewaltambulanz. Der Bedarf ist, das zeigen die Zahlen, stetig gewachsen. Weil es mehr Vorfälle gibt, oder weil das Angebot bekannter geworden ist?

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Ich gehe stark davon aus, dass die Bekanntheit immer mehr zugenommen hat. Wir sind sehr präsent, machen auch viele Fortbildungen für die Kolleginnen und Kollegen aus Kliniken, bei der Polizei, den Jugendämtern – bei allen Menschen, die Kontakt zu Gewaltopfern haben könnten. Und wir suchen die Öffentlichkeit, damit man, wenn es darauf ankommt, weiß, dass es die Einrichtung gibt.

Also einen massiven Gewaltanstieg sehen Sie nicht?

Allgemein gehe ich davon nicht aus. Aber in der Corona-Zeit, besonders während des ersten Lockdowns, wurden bei uns Fälle von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung deutlich häufiger untersucht. Schlägereien und Messerstechereien auf offener Straße gab es dafür aber eher nicht.

Zumindest bei Ihnen ist damit die häusliche Gewalt in den Corona-Jahren nicht im Dunkelfeld "verschwunden"?

Nein. Wir hatten keine Einbrüche, im Gegenteil: Es war bei uns Hochbetrieb. Das hat noch einmal gezeigt, wie sehr Gewalt in unserer Gesellschaft zum Alltag gehört.

Sie rechnen für 2023 in Heidelberg mit rund 700 Untersuchungen, rechnerisch also zwei pro Tag. Was bekommt Ihr Team da alles zu sehen?

Das ist ganz unterschiedlich. Wir sehen das ganze Spektrum von milden blauen Flecken bis hin zu Menschen, die schwer verletzt auf der Intensivstation liegen – und im schlimmsten Fall kurz nach unserer Untersuchung versterben. Auch bei Kindesmisshandlungen reicht die Spannweite von der Ohrfeige bis hin zu Kindern, die nur mit großem Glück überlebt haben – etwa Säuglinge mit lebensgefährlichem Schütteltrauma oder unbehandelten, mehrfachen Knochenbrüchen und Verletzung wichtiger Organe.

Wie kommt so ein Kind überhaupt zu Ihnen?

Oft durch Zufall, wenn jemand aus dem persönlichen Umfeld des Kindes Verdacht schöpft: Eltern, Großeltern, Freunde, Bekannte, Behandler, Lehrer. Manchmal kommt ein Kind auch mit einem Infekt in die Klinik und dann wird festgestellt, dass da ein unbehandelter älterer Bruch vorhanden ist. Dann werden wir hinzugerufen und finden nicht selten Hinweise darauf, dass das Kind schon einen langen Leidensweg hinter sich hat.

In vielen Fällen schicken Ihnen "Institutionen" – also Kliniken, die Polizei, das Jugendamt – die Patienten. Als Opfer kann ich mich ja aber auch selbst an Sie wenden.

Ja, auf jeden Fall. Gerade im Bereich der häuslichen Gewalt sehen wir viele Frauen – aber auch Männer –, die von selbst zu uns kommen. Unsere Telefonnummer stellen wir bewusst öffentlich bereit, weil es uns ein Anliegen ist, dass Menschen, die Opfer von Gewalt geworden sind, uns auf möglichst unkompliziertem Weg finden können.

Was passiert denn genau, wenn man Sie kontaktiert hat?

Wir führen ein erstes telefonisches Gespräch, beurteilen, wie dringend eine Untersuchung ist. Je weniger Zeit seit einer Tat vergangenen ist, desto höher kann die Dringlichkeit sein, weil wir dann, je nach Tat, bessere Chancen haben, beispielsweise noch DNA-Material zu sichern. Eine Woche nach einem Vorfall sind viele Verletzungen schon weitgehend verheilt und Spuren kaum noch nachweisbar. Wenn jemand sich selbst oder die Kleidung gewaschen hat, auch schon früher.

Und wenn Sie akuten Untersuchungsbedarf sehen?

Dann kommen die Betroffenen entweder zu uns, oder wir fahren hinaus: in die Klinik, in die Arztpraxis, zur Polizei, wo auch immer wir gebraucht werden. Da sind wir sehr flexibel. Dann klären wir über unsere Arbeit auf, unter anderem über unsere Schweigepflicht: Denn wenn eine Tat noch nicht angezeigt ist, entscheidet die untersuchte Person selbst, was mit den Daten und mit den Spuren passiert.

Kommt es oft vor, dass noch nicht angezeigt wurde?

Ja. Rund 70 Prozent der Untersuchungen bewegen sich in diesem Bereich. Bei häuslicher Gewalt, bei Kindesmisshandlungen und sexuellem Missbrauch gibt es eine hohe Hemmschwelle, solche Taten anzuzeigen. Daher kommen viele Menschen ohne die Polizei zu uns. Vielleicht erstatten sie hinterher Anzeige. Das können sie dann in Ruhe entscheiden. Aber die erste rechtsmedizinische Untersuchung findet in diesen Fällen häufig verfahrensunabhängig statt.

Also gerade bei Vorfällen im sensiblen privaten Bereich ist klar: Bei einer freiwilligen Untersuchung bei Ihnen gibt es keinen Automatismus, dass auch eine Anzeige gegen einen Täter erfolgt?

Genau. Es gibt in Deutschland keine Anzeigepflicht, wonach wir über den Kopf einer Person hinweg eine Anzeige erstatten müssten. Das entscheiden Erwachsene selbst. Bei Kindern ist das etwas anders, weil Kinder sich selbst nicht schützen können – nach schweren Kindesmisshandlungen und wenn das Kind in Gefahr ist, empfehlen wir auch eine Anzeige.

Was kostet mich die Untersuchung in der Gewaltambulanz?

Nichts. Das Angebot ist kostenfrei für betroffene Gewaltopfer.

Warum macht das eigentlich nicht mein Hausarzt, warum sollte ich mich an die Gewaltambulanz wenden?

Weil Rechtsmediziner die speziell dafür ausgebildeten Ärztinnen und Ärzte sind. Bekannt ist ja – beispielsweise aus dem "Tatort" –, dass wir dabei helfen, Folgen von Gewalt festzustellen und Mordfälle aufzuklären. Das Besondere an unseren Gewaltambulanzen ist, dass auch lebende Menschen von dieser Fachkompetenz profitieren können. Wir sind dazu ausgebildet, Gewalt zu erkennen, sie gerichtsfest zu dokumentieren, Spuren und Beweise zu sichern und vor allem auch festzustellen, wie sie entstanden ist. Das ist nicht Aufgabe des Hausarztes, nicht des Kinderarztes, man braucht dazu rechtsmedizinisches Fachwissen und auch Routine und Erfahrung, damit man die Befunde forensisch richtig diagnostizieren kann. Die Spuren, die wir sichern, haben hohe Beweiskraft in Straf- oder Zivilverfahren.

Diese Woche haben Sie in Stuttgart eine Außenstelle Ihrer Gewaltambulanz eröffnet. Warum erst jetzt? Der Bedarf in einer 630.000-Einwohner-Stadt muss doch enorm sein?

Seit 2011 versorgen wir ja aus Heidelberg den gesamten Raum Nordbaden. Mir war aber schon von Anfang an ein Dorn im Auge, dass zum Beispiel in Stuttgart, dem Zentrum des Landes, praktisch kein entsprechendes Angebot existierte. Politisch hat da die "Istanbul-Konvention" geholfen, ein Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Seit 2020 gibt es in deren Folge einen Rechtsanspruch auf eine verfahrensunabhängige Beweissicherung nach gewaltsamen Übergriffen. Und jetzt wird flächendeckend eine entsprechende Versorgung aufgebaut. Ich halte das für einen ganz großen Schritt, dass wir weiter in Richtung landesweiter Versorgung kommen.

In Freiburg und Ulm gibt es Gewaltambulanzen seit 2021, jetzt kommt Stuttgart hinzu: Gibt es Unterschiede zum Angebot in Heidelberg?

In Heidelberg haben wir von Anfang an das volle Angebot gehabt: 24-Stunden-Betrieb, 365 Tage im Jahr und auch mobil in der gesamten Region. In Ulm und Stuttgart kann das nur eingeschränkt geleistet werden, weil die Personalsituation noch eine andere ist. In Freiburg ist das Angebot aber schon ähnlich wie bei uns.

Stuttgart wird eine "Außenstelle" Heidelbergs: Mit neuem Personal?

Ja, es kommen neue Stellen hinzu. Das könnten wir von hier aus gar nicht bewerkstelligen, weil wir selber so viel zu tun haben. Fünf ärztliche Kolleginnen und Kollegen kommen nach Stuttgart, aber es gibt auch einige Überschneidungen mit Heidelberg. Unter anderem beim Hintergrunddienst, dem fachärztlichen Kollegen, der rund um die Uhr bereitsteht, um schnell unterstützen zu können.

2020 mussten Sie mal ziemlich energisch um die Finanzierung Ihrer Gewaltambulanz kämpfen. Sind diese Sorgen inzwischen endgültig vergessen?

In Heidelberg haben wir inzwischen eine gute Situation und ich gehe auch davon aus, dass wir die kommenden Jahre hier tatkräftig arbeiten können. In Stuttgart können wir beispielsweise noch keinen 24-Stunden-Betrieb bieten. Das liegt an den Finanzen. In Stuttgart werden wir ab Anfang März, wenn alle neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter da sind, am Wochenende, von Freitagfrüh bis Montagmorgen, rund um die Uhr erreichbar sein, unter der Woche bis auf Weiteres von 8 bis 23 Uhr. Das ist aus rechtsmedizinischer Sicht noch schade – denn Gewalt geschieht rund um die Uhr. Wenn nachts etwas passiert, werden wir am Anfang etwas improvisieren müssen. Aber wir versuchen, möglichst schnell wie in Heidelberg auf einen 24-Stunden-Betrieb zu kommen.

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