Gewalt gegen Frauen

"Der gefährlichste Ort für eine Frau ist ihre Wohnung"

Elke Ferner, Vorsitzende von UN-Women Deutschland, über Gewalt an Frauen und fehlenden Schutz.

25.11.2023 UPDATE: 25.11.2023 06:00 Uhr 3 Minuten, 2 Sekunden
Betroffene häuslicher Gewalt
Symbolfoto: dpa
Interview
Interview
Elke Ferner

Vorsitzende von UN-Women Deutschland

Von Tim Müller

Berlin. Elke Ferner ist Vorsitzende von UN-Women Deutschland, einem Organ der Vereinten Nationen zur Durchsetzung der Frauenrechte.

Frau Ferner, laut der UN gab es 2022 rund 89.000 Morde an Frauen weltweit. Woran liegt der Anstieg?

Sicher ist, dass die Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns weltweit zu einem deutlichen Anstieg von häuslicher Gewalt geführt haben. UN-Generalsekretär Antonio Guterres sprach in diesem Kontext mehrfach von einer ‚Schatten-Pandemie‘. Wir sehen aber nur die Spitze des Eisbergs. Die Dunkelziffer in Bezug auf Gewalttaten gegen Frauen ist riesig.

Werden mehr Gewaltfälle angezeigt oder gib es weltweit wieder mehr Fälle?

Beides ist richtig. In Deutschland werden zumindest seit der Verabschiedung des ‚Nein-heißt-Nein‘-Gesetzes zur Verschärfung des Sexualstrafrechts durch den Bundestag 2016 deutlich mehr Sexualdelikte gegen Frauen angezeigt. Allerdings geht man davon aus, dass das nur 10 Prozent aller Sexualstraftaten gegen Frauen sind – entsprechend werden 90 Prozent gar nicht zur Anzeige gebracht.

Wo sind Frauen besonders gefährdet?

Das ist ganz klar in der eigenen Wohnung – also dort, wo sich Frauen eigentlich besonders sicher fühlen sollten. Häusliche Gewalt ist mit Abstand die häufigste Form von Gewalt, die Frauen erfahren – und das durch den Partner oder Ex-Partner.

Und in welchen Weltregionen gibt es besonders viel Gewalt gegen Frauen?

Besonders gefährdet sind Mädchen und Frauen in Afrika. Allein dort gab es 20.000 Femizide in 2022. Umgerechnet auf die weibliche Bevölkerung des Kontinents waren das fast drei Morde pro 100.000 Frauen. Aber auch in Asien gab es über 18.400 Femizide.

Wie sieht die Situation in der EU aus?

Eine von drei Frauen über 15 Jahren in der Europäischen Union hat bereits physische oder sexuelle Gewalt erfahren. Noch immer haben nicht alle Mitgliedsstaaten der EU die Istanbul Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ratifiziert. Es gibt keine einheitliche Definition von Vergewaltigung in Europa. Das muss man sich vorstellen. Die Gewaltschutz-Richtlinie der EU, die momentan entwickelt wird, gerät immer wieder ins Stocken wegen des Widerstands einiger Mitgliedsländer. Auch Deutschland gehört zu den Bremsern. Insbesondere das FDP-geführte Justizministerium weigert sich, den Tatbestand der Vergewaltigung in diese Richtlinie aufzunehmen. Mit der fadenscheinigen Begründung die EU habe dafür keine Zuständigkeit.

In welchen Kulturen wird Gewalt an Frauen verharmlost?

An diesem Punkt darf man nicht generalisieren. Man kann nicht sagen, dass Gewalt gegen Frauen nur auf bestimmten kulturellen oder religiösen Hintergründen beruht oder nur in finanzschwachen Milieus zu finden ist. Jede Frau, in jedem Land dieser Erde, kann Opfer von Gewalt werden. Dabei spielt immer das Machtgefälle zwischen Mann und Frau aufgrund patriarchalischer Strukturen eine Rolle. Frauen werden von weiten Teilen der männlichen Bevölkerung überall auf der Welt als nicht gleichwertig angesehen. In Deutschland gibt es genauso physische und psychische Gewalt gegen Frauen wie in Afrika oder Asien. Manche schrecklichen Taten kommen in manch anderem Land zwar häufiger vor, aber sie werden auch hierzulande begangen.

Gewalt gegen Frauen ist eine plumpe Machtdemonstration von Männern?

Ja, so kann man es sagen. Und davor ist keine Frau sicher. In vielen Staaten dieser Welt gibt es zudem nicht einmal ein Hilfesystem, wie Frauenhäuser oder den Frauen-Notruf, das Betroffenen nach einer solchen Erfahrung helfen kann. Oft sind sie von ihrem Peiniger sogar rechtlich wie finanziell abhängig. Hier muss weltweit noch viel getan werden von den jeweiligen Ländern.

Mit dem Krieg in der Ukraine und dem Terror gegen Israel kam auch die bewusste Verbreitung von Bildern mit sexueller Gewalt gegen Frauen im Netz?

Es sind zuallererst furchtbare Kriegsverbrechen, die von Russland und der Hamas begangen wurden und immer noch werden. Die Verbreitung dieser Bilder ist dabei auch eine Art Machtdemonstration und damit natürlich ein Angriff auf die Rechte der Frauen. Es ist aber auch eine Attacke auf ein egalitäres Gesellschaftsmodell, in dem jeder Mensch gleich viel wert ist – egal welches Geschlechts.

Wie steht es beim Abbau struktureller Gewalt gegen Frauen. Beispielsweise im Kampf gegen die allgemeine Ungleichbehandlung?

Es muss mehr getan werden. Auch hierzulande sind wir weit entfernt von echter Gleichstellung, wir sind aber immerhin unter den besten neun Ländern dieser Welt. Allerdings ist Deutschland bei der Beseitigung des geschlechterspezifischen Lohngefälles Schlusslicht in Europa. Auch bei der Zahl der Frauen in Führungspositionen oder bei der fairen Teilung von familiärer Care-Arbeit landen wir nur auf den hinteren Rängen. Global betrachtet dauert es nach Zahlen des World Economic Forum beim derzeitigen Tempo für die Durchsetzung der Frauenrechte weltweit 131 Jahre, noch 162 Jahre zur politischen Gleichstellung der Geschlechter und 168 Jahre bis zur ökonomischen.

Glauben Sie an die Erreichung dieser Ziele?

Ja, wir schaffen das. Wir müssen es schaffen. Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt haben das verdient. Und die Gleichstellung der Frau ist auch für Männer gut. Sie mehrt den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand, wie viele Studien zeigen. Sie erhöht die Zufriedenheit in Betrieben und macht einen Staat in Krisen resilienter. Wir haben kein Erkenntnisdefizit, wir haben ein Handlungsdefizit. Wir müssen die Gleichstellung endlich wirklich angehen.

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