Wenn der Schutz vor Gewalt zur Behördensache wird (plus Video)
Fehlende Plätze, Hürden bei der Finanzierung und die mangelnde Akzeptanz: Schutzeinrichtungen machen Missstände öffentlich und fordern von der Politik notwendige Reformen.

Von Sandra Kettenmann
Heidelberg/Mannheim. Angst ist ein ständiger Begleiter für Frauen, die von Gewalt betroffen sind. Es gibt gute Tage, dann wieder schlechte. Und doch ist sie die ganze Zeit präsent. Mit ihrer Angst warten die Frauen auf die nächste Welle, der Moment, wenn die Situation wieder eskaliert. Wenn ihr Peiniger zuschlägt, sie demütigt, sie einsperrt. Diese Form der Angst ist den Frauen vertraut und sie haben gelernt, mit ihr zu leben. Es ist ein Prozess, der sich langsam und über Jahre entwickelt hat und dadurch ein Teil ihres Lebens wurde.
Doch ab einem gewissen Punkt ist alles zu viel und die Angst vor dem Täter wird größer, als vor der unbekannten Zukunft. Es ist der Moment, wenn Angst, Verzweiflung und viel Mut aufeinandertreffen und die Frauen nur noch eine Chance sehen: die Flucht ins Frauenhaus.
"Wenn eine Frau eine Gewaltsituation verlässt, dann verlässt sie nicht nur den Partner. Sie verlässt alles. Ihre Wohnung, die sie sich eingerichtet hat und wo sie sich wohlfühlt, wo vielleicht auch die Kinderbetreuung organisiert ist, wo sie einen kleinen Job hat und sie sich ein Netzwerk aufgebaut hat", Ruth Syren spricht aus Erfahrung. Sie kennt die Angst in den Gesichtern der Frauen, die sich bei ihr melden um einen Platz im Mannheimer Frauenhaus "Heckertstift" zu erhalten. Aber: "Wir sind voll".
Hintergrund
Die Istanbul-Konvention
Sie ist ein internationales Abkommen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, Gewalt gegen Frauen zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen,
Die Istanbul-Konvention
Sie ist ein internationales Abkommen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, Gewalt gegen Frauen zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen, Diskriminierung von Frauen zu verhindern und die Rechte von Frauen zu stärken. Laut Konvention wird die Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung definiert und ist zugleich ein Zeichen der Ungleichstellung von Frauen und Männern.
2011 entstand in Istanbul das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Ein Expertengremium (GREVIO) verfasste die Evaluierung im Auftrag des Europarates und kontrolliert seither die Einhaltung des Vertrags. In Deutschland ist die Konvention seit Februar 2018 geltendes Recht. 2022 ermahnte GREVIO Deutschland für mehr Handlungsbedarf und forderte die Einrichtung einer Koordinierungsstelle auf Bundesebene.
Und das gilt nicht nur für das Frauenhaus "Heckertstift". Auf www.frauenhaus-suche.de sind alle Kontaktstellen für Frauenschutzhäuser und Frauenschutzwohnungen in ganz Deutschland aufgelistet. Hier dominiert das rote "X". Ein Symbol für ein belegtes Frauenhaus. Wird das Symbol grün (ein freier Platz) dauert es laut Syren keine zehn Minuten bis das Telefon zum ersten Mal klingelt. "Ab da steht es nicht mehr still" und die Anrufe kommen aus ganz Deutschland.
Auch interessant
Das können auch Esther Ehrenbrand und Milena Berg vom Heidelberger Verein "Frauen helfen Frauen" bestätigen. Neben Beratungs- und Interventionsstellen führt und betreut der Verein das Heidelberger Frauenhaus mit 22 Familienplätzen. Im Jahr 2022 fanden hier 22 Frauen im Alter zwischen 18 und 60 Jahren mit ihren 40 Kindern Schutz. Eine Frau kam aus Heidelberg, sieben aus Baden-Württemberg und 14 aus anderen Bundesländern.
Aufgrund der großen Platznot musste das Frauenhaus im vergangenen Jahr 240 Frauen und 257 Kinder abweisen. "Wir haben im Frauenhaus eine telefonische Bereitschaft und versuchen gemeinsam mit den Frauen am Telefon nach einer Alternative zu suchen, wenn wir sie nicht aufnehmen können. Manchmal gibt es auch eine. Manchmal nicht. Dann versuchen wir einen Platz in einem anderen Frauenhaus zu finden. Viele kennen aber auch die Internetseite frauenhaus-suche.de und gehen eigenständig auf die Suche", erklärt Esther Ehrenbrand.
Kein Platz für Menschenrechte
Dabei hat die Ursache des Platzproblems politische Gründe. Im Februar 2018 ist Deutschland der Istanbul-Konvention beigetreten und hat sich damit verpflichtet, Frauen vor Gewalt zu schützen. Laut Konvention sollte pro 10.000 Einwohner ein sicherer Familienplatz für eine Frau und ihre Kinder angeboten werden. 2022 gab es in Deutschland insgesamt etwa 350 Frauenhäuser und 40 Frauenschutzwohnungen. Laut Konvention fehlen demnach 14.000 Schutzräume für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder.
Auf die Kommunen heruntergerechnet benötigt der Rhein-Neckar-Kreis 134 Plätze. Aktuell gibt es zwei Schutzwohnungen mit einem Einzelplatz und drei Familienplätzen. Dem Landratsamt ist der Mangel bekannt. Auf Nachfrage heißt es, dass für 2024 insgesamt fünf Schutzwohnungen und ein Frauen- und Kinderschutzhaus mit 21 Familienplätzen in Planung seien. Die Stadt Heidelberg müsste 41 Plätze zur Verfügung stellen.
Mit drei Frauen- und Kinderschutzhäusern bietet Mannheim aktuell 69 Schutzräume an. Laut Konvention müssten es 79 sein. 36 Familienplätze sollte der Neckar-Odenwaldkreis zur Verfügung stellen. Hier ist allerdings nicht nur das Landratsamt mit Sitz in Mosbach als Träger eingetragen, sondern auch der Main-Tauber-Kreis. Ein Frauenschutzhaus mit elf Plätzen, für fünf Frauen und sechs Kinder, für zwei Landkreise.
Auf der Übersichtseite frauenhaus-suche.de ist das Frauenhaus im Neckar-Odenwald-Kreis grau markiert. Was bedeutet, dass keine Informationen vorliegen. Auf Nachfrage beim Landratsamt heißt es: "Aufgrund einer Grundsanierung befindet sich die Einrichtung seit dem 1.5.2022 in einem Ausweichquartier, welches eine vorübergehende Platzreduzierung auf acht Plätze für drei Frauen und fünf Kinder mit sich brachte." Die Aufstockung auf die gewohnten elf Plätze solle unmittelbar bevorstehen, teilt das Landratsamt mit.
Folgen der Überlebensstrategie
Doch der Platzmangel ist nicht der einzige Grund, warum einer Frau in Not kein adäquater Schutz geboten werden kann. Die Betreiber der Frauenschutzhäuser- und Wohnungen haben eigene Aufnahmekriterien. So sind viele Einrichtungen nicht barrierefrei. Einer Frau mit einer körperlichen Behinderung ist der Zugang damit verwehrt. Haustiere sind in keiner Einrichtung erlaubt und die Aufnahme von Müttern mit Söhnen ist ebenfalls Einrichtungsabhängig. In Heidelberg werden Söhne ab 12 Jahren, in Mannheim ab 14 Jahren nicht aufgenommen.
Das DRK Weinheim betreut die beiden Schutzwohnungen im Rhein-Neckar-Kreis. Für den Bereich "Frauen und Familie" ist Elena Lorente zuständig. Mit zwei Mitarbeiterinnen unterstützen sie aktuell vier Frauen mit Kindern. "Unser Motto ist die Hilfe zur Selbsthilfe und wenn wir die nicht gewährleisten können, müssen wir die Frauen leider abweisen", berichtet sie. Dazu zählen auch Frauen mit schweren Suchterkrankungen. "Die Frauen haben eine Überlebensstrategie entwickelt, um in einem sehr traumatisierenden und gefährlichen Umfeld zu überleben", doch für Elena Lorente und ihr Team braucht es hier eine fachkundige und verstärkte Betreuung. Sie ergänzt: "Mit einer Vollzeit, einer 50-Prozent und einer 80-Prozent-Stelle können wir das personell nicht leisten."
Ein weiteres Ausschlusskriterium ist eine Clan- oder Bandenzugehörigkeit. Es mag wie in einem schlechten Film klingen, doch für die Weinheimer DRK-Mitarbeiterinnen ist das der Alltag. "Wir müssen die Frauen in den Wohnungen schützen. Eine Frau mit Clan-Hintergründen würde sie gefährden." Weitere Regeln sind Kontaktverbote, keine Reisen in die Heimat, keine privaten Treffen mit Familienangehörigen oder Freunden. "Wir haben strenge Regeln. Aber die sind für unsere Arbeit und den Schutz der Frauen und unserer Mitarbeiterinnen unumgänglich."
Die Behörden als Hürde
Alle Mitarbeiterinnen berichten im Gespräch von der wohl größten Hürde, die sie in ihrem täglichen Umgang mit von gewaltbetroffenen Frauen zu bewältigen haben: der tägliche Umgang mit den Behörden und der Finanzierung. "Wir haben in Baden-Württemberg die Situation, dass fast ausschließlich alle Frauenhäuser über Tagessätze finanziert werden. Und da ist die Grundlage das Sozialgesetzbuch 2 oder 12", erläutert Ruth Syren. Dabei handelt es sich um die Vorgaben für das Bürgergeld und das Sozialgeld, die an gewisse Voraussetzungen geknüpft sind. Es gibt in Baden-Württemberg keine eigene gesetzliche Regelung, die sich ausschließlich der Finanzierung von Frauen wittmet, die von Gewalt betroffen sind.
Milena Berg vom Heidelberger Frauenhaus berichtet: "In Heidelberg erhalten wir pro Frau und Kind, die im Frauenhaus leben und laut Sozialgesetzbuch Anspruch auf die Leistungen haben, einen Tagessatz für Miet- und Betreuungskosten. Diesen müssen wir mit der Stadt jährlich neu verhandeln." Bei Anspruch auf die Leistungen geht das Heidelberger Jobcenter in die Vorleistung und zahlt den Tagessatz an das Frauenhaus aus. "Das Jobcenter versucht das Geld von den Herkunftskommunen einzufordern", erklärt Berg. Der aktuelle Tagessatz in Heidelberg liegt bei 13,74 Euro und die Betreuungskosten bei 52,88 Euro.
Die Frauen, die aufgrund dieser Regelung von einem Frauenhaus in Baden-Württemberg nicht aufgenommen werden können, sind aber keine Einzelfälle. "Ich muss aufgrund der verschiedenen Finanzierungen einer verängstigten und gewaltbetroffenen Frau Fragen stellen, die ich eigentlich nicht stellen will." Ruth Syren erzählt, dass sie nach der Nationalität, dem Aufenthaltsstatus, dem Beruf und der Finanzierung des Alltags und dem der Kinder fragen muss. Denn hat die Frau den falschen Status, könnte ihr im schlimmsten Fall eine Abschiebung drohen.
Darunter fallen EU-Bürgerinnen ohne Freizügigkeit. Das bedeutet ohne eigenes Einkommen, kein eigenes Vermögen und einer Aufenthaltsdauer unter fünf Jahren. Auch Migrantinnen, deren Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist oder die sich noch im Asylverfahren befinden, sind davon betroffen. In solchen Fällen verweisen die Frauenhausmitarbeiterinnen auf andere Bundesländer. "Wenn der Frau aufgrund ihrer Situation zusätzlich noch eine Abschiebung drohen könnte, verweisen wir sie an andere Bundesländer mit einer gesicherten Finanzierung wie Hamburg oder Brandenburg", sagt Ruth Syren.
Es sind Erfahrungen wie diese, die sie immer mehr am System zweifeln lassen. Sie und ihre Kolleginnen aus Heidelberg und Weinheim setzen sich deshalb für eine Änderung der Finanzierung eines Frauenhausaufenthalts in Baden-Württemberg ein. Wird dem Kostenträger die Finanzierung des Aufenthalts im Frauenhaus zu teuer, kann eine bestehende Gefahrensituation auch schnell als beendet erklärt werden. "Wir hatten eine Frau mit drei Kindern aufgenommen. Nach drei Monaten fragte der Träger, warum die Frau noch im Frauenhaus sei. Natürlich will der Träger die Kosten sparen und drängt darauf, dass die Frauen schnellstmöglich ausziehen. Aber der Wohnungsmarkt ist dicht und vielleicht besteht auch noch eine Gefahrensituation für sie und die Kinder. Wo soll sie denn bitte hin?"
Kein Job, keine Wohnung, keine Perspektive
Sie erklärt den Ablauf bei einer zugesagten Finanzierung: "Wir melden alle Frauen umgehend beim Jobcenter an, weil sich die Frauen in der Regel nicht selbst finanzieren können. Bei vielen bekommen wir die Rückmeldung, dass die Frau und somit auch wir keinen Leistungsanspruch haben." Das Mannheimer Frauenhaus könnte in dieser Situation für die Kosten aufkommen und andere Wege der Finanzierung suchen, aber: "Die Problematik besteht ja weiterhin, denn die Frau bekommt grundsätzlich keine Leistungen. Dann müsste das Frauenhaus ihr nicht nur einen geschützten Platz zur Verfügung stellen, sondern auch ihren Lebensunterhalt finanzieren. Die Perspektive der Frau ist durch dieses System bei null. Sie hätte keinen Anspruch auf eine Wohnung – sofern sie eine findet – und auch keine Übernahme der Mietkosten – verstehen Sie, sie hat Anspruch auf gar nichts!"
Im Gespräch empört sich Ruth Syren über ein Schreiben eines Kostenträgers: "Ich wurde aufgefordert, explizit zu erläutern, warum wir eine Bewohnerin nicht in eine Obdachlosen- oder Flüchtlingseinrichtung vermittelt haben. Die Frau ist deutsche Staatsbürgerin. Ich kann sie nicht in eine Flüchtlingsunterkunft vermittelt. Außerdem ist es eine Frau, die eine schwere Gewaltsituation erlebt hat." Sie hält kurz inne und ergänzt: "Das ist keine Ermutigung für Frauen eine Gewaltsituation zu verlassen. Wir haben eine verfehlte Wohnraumpolitik. Dafür kann man doch nicht Opfer von Gewalt in die Verantwortung nehmen."
Von der Abhängigkeit zur Selbstbestimmung
Die Vergangenheit der von Gewalt betroffenen Frauen ist eine tägliche Herausforderung für die Mitarbeiterinnen in den Frauen- und Kinderschutzhäusern sowie den Schutzwohnungen. Elena Lorente und ihr Team vom Weinheimer DRK berichten von Frauen, die noch nie Bus gefahren sind, die nicht wissen, was ein Briefkasten ist, keine eigene Mailadresse haben oder noch nie selbst beim Arzt angerufen haben. "Es ist für uns und die Frauen ein Erfolg, wenn sie das zum ersten Mal eigenständig machen", erzählt sie und ergänzt: "Diese Frauen lebten in einer Parallelwelt, die mitten in unserer Gesellschaft existiert."
Es ist eine Welt, die von Gewalt geprägt wurde und die das Schicksal aller Frauen und Kinder in den Schutzräumen miteinander vereint. "Wir wünschen uns, dass wenn Frauen von Gewalt berichten, man ihnen auch glaubt. Frauen erfinden in der Regel keine Gewaltbetroffenheit. Und der Gang ins Frauenhaus ist oftmals ihre letzte Option", schildert Esther Ehrenbrand und ergänzt zur Betroffenheit der Kinder: "Das Sorge- und Umgangsrecht hebelt den Gewaltschutz aus. Auch das muss sich dringend ändern – zum Schutz der Frauen und Kinder."
Deshalb stellen sich die Mitarbeiterinnen gemeinsam mit den Gewaltopfern, den täglichen Hürden eines patriarchal-geprägten Systems. Sie fordern mehr Gehör, Beachtung, Finanzierung und Unterstützung in ihrer täglichen Arbeit und setzen sich auch auf politischer Ebene für mehr Schutz von Gewalt betroffenen Menschen ein, damit mehr Frauen den ersten mutigen Schritt aus einer gewalt- und angsterfüllten Beziehung wagen können - ohne alles zu verlieren.
Hier finden Sie Hilfe:
- Bundesweites Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen, Telefon 08000/116016, www.hilfetelefon.de
- Interventionsstelle für Frauen und Kinder in Heidelberg, Telefon 06221/750 135, info@interventionsstelle-heidelberg.de
- Autonomes Frauenhaus Heidelberg, Telefon 06221/833088, kontakt-frauenhaus@fhf-heidelberg.de
- Frauen- und Kinderschutzhaus "Heckertstift" Mannheim, Telefon: 0621/411068 oder www.caritas-mannheim.de
- Schutzwohnungen im Rhein-Neckar-Kreis, Telefon: 0621/3218170 oder www.drk-mannheim.de
- Frauenhäuser in ganz Deutschland www.frauenhaus-suche.de