Freiburger Missbrauchsfall

Jugendamt griff trotz Hinweisen nicht ein

Sachbearbeiter stufte diese als vage ein - "Es war jenseits der Vorstellung, dass die Mutter so etwas tut"

05.07.2018 UPDATE: 06.07.2018 06:00 Uhr 1 Minute, 50 Sekunden
Foto: dpa

Von Jürgen Ruf

Freiburg. Im Freiburger Prozess um jahrelangen Kindesmissbrauch wird die Rolle des Jugendamtes hinterfragt. Hätte es das Leid des Jungen früher beenden können? Fakt ist: Auch nach Hinweisen der Schule im Juni und Juli 2017 griff das Amt nicht ein, obwohl der Junge schon einmal in staatliche Obhut genommen worden war.

Er habe Warnungen der Lehrerin des heute Neunjährigen und des Schulleiters als "vage Hinweise" eingestuft, sagte der zuständige Sachbearbeiter im Jugendamt am Donnerstag vor dem Landgericht Freiburg. Polizei oder Gerichte, die sich bereits mit der möglichen Gefährdung des Kindes befasst hatten, habe er nicht informiert. Er habe auch keine Gespräche mit dem Jungen oder der Schule geführt oder Kontrollen veranlasst.

"Es war jenseits der Vorstellung, dass die Mutter so etwas tut", sagte der Mitarbeiter des Jugendamtes im Prozess. "Wenn man sich die Ungeheuerlichkeiten anschaut, tut es mir leid für den Jungen. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten ihn besser schützen können."

Der in Staufen bei Freiburg lebende Junge war den Ermittlungen zufolge mehr als zwei Jahre lang von seiner Mutter (48), deren wegen schweren Missbrauchs vorbestraften Lebensgefährten (39) sowie von Männern aus dem In- und Ausland vergewaltigt und im Darknet für Übergriffe angeboten worden.

Auch interessant
Urteil im Freiburger Missbrauchsfall: "Das Kind war dem Angeklagten hilflos ausgeliefert"
Freiburger Missbrauchsfall: Mutter zeigt bisher keine echte Reue
Freiburger Missbrauchsfall: Das Kind kommt gerade im neuen Leben an
Freiburger Missbrauchsfall: Das Motiv bleibt ein Rätsel
Freiburger Missbrauchsfall: Missbrauchsbeauftragter fordert mehr Personal für Jugendämter
Freiburger Missbrauchsfall: Tarnname im Darknet war "Geiler Daddy"

Die Taten ereigneten sich laut Gericht von Februar 2015 bis zur Festnahme der Verdächtigen im September 2017. Bereits im März 2017 gab es Hinweise der Polizei, wonach der Junge gefährdet sein könnte. Beweisen ließ sich damals den Ermittlern zufolge jedoch nichts.

Hintergrund

Im Staufener Missbrauchsfall sind bislang fünf von acht Beschuldigten verurteilt worden:

Zehn Jahre Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung lautete das erste Urteil gegen einen der Täter in Freiburg. Außerdem muss er dem Opfer

[+] Lesen Sie mehr

Im Staufener Missbrauchsfall sind bislang fünf von acht Beschuldigten verurteilt worden:

Zehn Jahre Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung lautete das erste Urteil gegen einen der Täter in Freiburg. Außerdem muss er dem Opfer 12.500 Euro Schmerzensgeld zahlen. Die Verteidigung ging in Revision.

Acht Jahre muss ein Bundeswehrsoldat hinter Gitter, auch hier ordnete das Landgericht Freiburg 12.500 Euro Schmerzensgeld an. Beide Seiten legten Revision ein.

Acht Jahre Haft plus Sicherungsverwahrung lautete das Urteil über einen Mann, der noch nach der Festnahme der Eltern aus Schleswig-Holstein nach Freiburg reiste, um den Jungen zu vergewaltigen. Verdeckte Ermittler nahmen in fest. Er soll sogar Tötungsfantasien geäußert haben.

Neun Jahre Haft erhielt Anfang Juli ein 37-jähriger Schweizer. Auch gegen ihn verhängte das Landgericht Freiburg Sicherungsverwahrung, dazu 14.000 Euro Schmerzensgeld.

Sieben Jahre und drei Monate muss ein Mann aus Neumünster hinter Gitter, weil er seine Tochter vergewaltigt hatte und im Zuge der Staufener Ermittlungen aufflog. (lsw)

[-] Weniger anzeigen

Im Juni 2017 meldete sich die Lehrerin beim Jugendamt. Der Junge habe sich im Bus einem Schulkameraden anvertraut, der dies wiederum der Lehrerin erzählte. "Er hat erzählt, er müsse sich vor dem Lebensgefährten der Mutter ausziehen und sich anschauen lassen."

Es bestehe der Verdacht auf Kindesmissbrauch, zumal der Lebensgefährte einschlägig vorbestraft sei, keinen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben dürfe und das Gericht ein hohes Rückfallrisiko sehe. Doch nichts passierte, auch nicht, als der Rektor der Schule Ende Juli 2017 beim Amt nachhakte. Die Vergewaltigungsserie, die damals noch nicht bekannt war, setzte sich fort.

Familiengerichte und Jugendamt stehen in dem Fall in der Kritik. Sie hatten das Kind im März 2017 aus der Familie genommen, dann aber zurück zur Mutter geschickt und ihr vertraut, dass sie das Kind schütze.

Gegen die Behörde und die Justiz sind mehrere Strafanzeigen eingegangen. Mögliche Vorwürfe seien fahrlässige Körperverletzung mit Blick auf das Jugendamt und Rechtsbeugung in Bezug auf die beteiligten Gerichte. "Es geht darum, aus diesem Fall Lehren für die Zukunft zu ziehen", sagte Staatsanwältin Nikola Novak. Es sei wichtig, bei Verdachtsfällen die Polizei zu informieren.

Der jahrelange Missbrauch des heute Neunjährigen ist nach Angaben des Landeskriminalamtes der schwerwiegendste Fall dieser Art, den die Polizei im Südwesten bislang bearbeitet hat. Der Prozess gegen die Mutter und ihren Lebensgefährten als Hauptbeschuldigte wird fortgesetzt. Ein Urteil soll Anfang August fallen. Der Junge lebt inzwischen bei einer Pflegefamilie.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.